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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Sie ist offen, dreht sich um sich selbst und verspritzt ihren Inhalt in weiter werdenden Kreisen. Einzelne Tropfen blitzen auf, perfekt, unglaubwürdig lange in der Luft stehend. Die Flasche schafft es nicht mal bis zur Wand des Vorderhauses, hüpft über den Zement und rollt, sich endgültig entleerend, davon.
    Das Wasser aus diesen Plastikflaschen, sage ich, schmeckt immer ein bisschen nach Barbiepuppe.
    Ich weiß, dass das ein Satz ist, der Jessie gefallen hätte, mit Sicherheit wäre eine ganze Geschichte daraus geworden, über Barbie und Ken, wie sie die Welt erpressen mit der Drohung, in Mineralwasserflaschen zu pinkeln. Clara reagiert nicht, sie stellt noch einmal den Ghettoblaster an und lässt die Lautstärke hochfahren bis zum Anschlag. Ich wälze mich neben das Gerät, bis mein gesundes Ohr das Plastikgitter des Lautsprechers fast berührt. Die Musik pulverisiert mich, ich lasse mich aufwirbeln, umkreise den Hof, die Stadt, das Land, den Planeten, und alles, was ich noch höre, ist das Geräusch des Fahrtwinds in meinem Ohr, das Rauschen der Erdumdrehungen.
    Erst als Clara über mich hinweggreift, um das Gerät auszuschalten, bemerke ich, dass das Lied schon seit ein paar Sekunden zu Ende ist. Jetzt haben wir es wirklich still.
    Eine leichte Brise kommt auf, bewegt die Barthaare vom Hund und bringt Knoblauchdunst aus dem Nudeltopf zu uns herüber. Es war schwierig, auf dem kleinen Elektrokocher etwas zuzubereiten, und dann hat keiner von uns das Essen auch nur angerührt.
    Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen schaut sie in den Großen Wagen, der riskant auf der Spitze seiner Deichsel balanciert, genau auf dem Schornstein des Nachbarhauses.
    Viele Sterne, sagt Clara, die wir da oben sehen, sind schon seit tausend Jahren tot, und ihr Licht rast immer noch durchs Universum.
    Ja, sage ich, und wenn wir erst tot sind, rast auch unser Bild noch lange durchs Weltall, und sie werden uns in tausend Jahren von dort oben aus noch sehen können.
    Fein, sagt Clara, dann lass uns noch eine Weile so liegen bleiben und uns für die Ewigkeit konservieren.
    Ich fülle die Gläser nach.
    Kennst du den Gedanken, sage ich, dass es völlig hirnrissig ist, etwas für andere Menschen zu tun, weil man selbst ein Mensch ist und deshalb weiß, wie wenig sie es verdienen? Und wie daraufhin der Sinn jeder beliebigen Beschäftigung in sich zusammenbricht? Manchmal glaube ich, dass die Christen einfach Pragmatiker sind mit ihrem »Liebe deinen Nächsten«. Nur das »wie dich selbst« hätten sie weglassen sollen. Verstehst du?
    Hä??, sagt sie. Nein.
    Hätte ich mir denken können, sage ich. Bei dir ist das wie mit einer Tüte Erdnussschalen. Ab und zu greift man rein und denkt, man hat noch eine volle erwischt, aber in Wahrheit sind alle komplett hohl.
    Ich bin nicht hohl, sagt Clara, sondern konkav. Du spiegelst dich in mir und siehst dich viel dicker und stärker, als du in Wirklichkeit bist.
    Und was bin ich in Wirklichkeit, frage ich.
    Ein armes Arschloch, sagt sie, das seit Wochen nur noch auf seine Verklappung wartet.
    Ein Loch, sage ich, hat wenigstens noch etwas außen herum. Wie man an dir sieht, kann man auch nur das Innere sein von einem Loch.
    Im Liegen zuckt sie die Achseln.
    Ach, sagt sie, ist mir auch völlig egal.
    Es ist eine Art Schlafen, obwohl die Augen offen sind und alle Sinne wach. Der Mond ist rund und fleckig wie ein abgegessener Teller. Clara nimmt einzelne Nudeln aus dem Topf und ordnet sie auf dem Betonboden der Länge nach an. Als sie fertig ist, rutscht sie zu mir herüber und wischt sich ihre Knoblauchfinger am Stoff meines T-Shirts ab. Ich weiß, dass das eine Zärtlichkeit sein soll. Sie legt sich so nah neben mich, dass ich einen Luftzug am Hals spüre, jedes Mal, wenn sie ausatmet. Ein paar ihrer Haare, vom Wind bewegt, kitzeln mich am Oberarm. Ich unternehme nichts dagegen. Es ist wie Schlafen.
    Vermisst du ihn nicht manchmal, wenn du an die alten Zeiten denkst?
    Woher weißt du, frage ich, dass ich gerade an die alten Zeiten gedacht habe?
    Denkst du jemals an was anderes?
    Nein, sage ich.
    Also, sagt sie, vermisst du ihn oder nicht.
    Wen?, frage ich.
    Shershah, sagt sie.
    Wer ist Shershah, frage ich.
    Sie stöhnt und rollt sich auf den Rücken.
    Oh come on, sagt sie.
    Die Rauchwolken meiner Zigarette stehen eine Weile kunstvoll in der Luft, bevor der leichte Wind sie auseinander reißt. Ich habe das eindeutige Gefühl, dass der Zementboden mich wiegt.
    Als Jessie mir am Telephon erzählte,

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