Adler und Engel (German Edition)
Hängematte zum Schwingen. Ganze Flutwellen von Energie gehen in konzentrischen Kreisen von Hund und Mädchen aus, ich fühle mich wie ein Weinkorken, der schaukelnd an die Peripherie getrieben wird.
Hurra ausgeschlafen, sagt Clara.
Nichts dergleichen, aber mir kommt die Idee, dass der Inhalt der Bäckertüte mich in wenigen Minuten von den Schmerzen befreien könnte, die das Ödem in meinem Bauch verursacht. Ich reiße ein Brötchen nach dem anderen auseinander, schabe die weiche, weiße Teigmasse aus dem Inneren heraus und rolle sie zu tischtennisballgroßen Kugeln, die sich zwischen meinen Handflächen gräulich verfärben. Mein Magen gluckert wie ein kaputtes Klo. Clara hockt auf dem Boden, locht bedruckte Papierseiten und heftet sie im Ordner ab.
Was ist das, frage ich.
Deine Krankenakte, sagt sie.
Während sie für sich eine Flasche Orangensaft knackt, schütte ich die Brötchenüberreste dem Hund hin, der sich sofort darüber hermacht. Als die Autotür zum zweiten Mal knallt, Clara zurückkommt und den Schlüssel in ihre Rocktasche schiebt, kapiere ich, dass sie den Ascona als Schließfach verwendet.
So lange es irgend geht, bleibe ich liegen, ohne mich zu bewegen, aber jetzt stört mich die Vorstellung, dass es unter dem Schuppen einen Keller geben könnte, durch den sich kreuz und quer die Netze spannen; dickleibig und tickend sitzen die Spinnen darin, im ganzen Raum verteilt. Und Clara und ich wohnen hier, oberhalb der Dielen, ahnungslos wie Stubenfliegen.
Ich habe mir eingebildet, die ganze Zeit wach zu sein hinter geschlossenen Augen, aber als ich eine Art Schmerz spüre irgendwo in den weiten Regionen meines Körpers, kann ich ihn nicht orten, erwache wie aus einer Narkose und finde mich nur mühsam im eigenen Nervensystem zurecht. Es ist weniger ein Schmerz, mehr eine ärgerliche Berührung, die übertriebene Reizung einer empfindlichen Stelle. Ich schlage die Augen auf, Clara zieht ihre Hand zurück und die betroffene Stelle befindet sich genau zwischen meinen Beinen. Clara hat meinen Schwanz durch den Schlitz in den Boxershorts herausgeholt.
Drehst du jetzt durch?
Sie antwortet nicht, ich packe mich wieder ein und muss lachen, als ich ihrem Blick begegne.
Alles für die Wissenschaft?, frage ich.
Ich stehe auf, umrunde sie und stelle mich so, dass ich die offene Tür im Rücken habe.
Habe ich dir nicht gesagt, dass Jessie das mit sich genommen hat?
Quatsch mitgenommen, sagt Clara, das kommt vom Koksen.
Kokain, sage ich, verbessert das Stehvermögen.
Ja, am Anfang, sagt sie, und später gibt es Arterienverengung und Durchblutungsstörungen und das war’s dann.
Deine Idee von Männern, sage ich, ist ein bisschen klinisch.
Bei mir rufen ständig Leute in der Sendung an, sagt sie, mit dem gleichen Problem, und die koksen alle.
Dann weißt du ja auch, sage ich, dass Koks auf längere Sicht zu pathologischen Persönlichkeitsveränderungen führt. Zu unkontrollierbaren Aggressionsausbrüchen.
Man soll keine Fachausdrücke verwenden, sagt sie, die man nicht versteht.
Aber praktizieren kann man sie, sage ich.
Während ich mich bücke, um einen meiner Schuhe vom Boden aufzuheben, zieht sie sich in die hinterste Ecke zurück. Dort steht sie leicht vorgeneigt wie ein Torwart beim Elfmeter.
Komm, sage ich, machen wir deinem Prof eine Freude.
Es ist ein Vergnügen zu sehen, wie sie schnaubt, sich unter der Hängematte hinwegduckt und an mir vorbeistürmt. Der schwarze Pagenkopf bleibt zwischen den Seilen hängen und schaukelt wild hin und her, während Claras neue Knöchelstiefel über den Hof klappern. Ich mache keinen Versuch, sie aufzuhalten. Die schwere Hoftür fällt ins Schloss. Ich lache noch ein paar Sekunden lang, dann gehe ich mit meinem Schuh nach draußen und schlage die Scheibe an der Beifahrertür des Asconas ein. Um mir selbst eine Freude zu machen, stelle ich mir dabei vor, wie Tom Technikers Vogelnestfrisur zu Berge stehen würde vor Schreck, wenn er das sehen könnte. Obwohl es nicht nötig wäre, klopfe ich noch die letzten würfelförmigen Glassplitter aus dem Rahmen, bevor ich die Tür von innen öffne.
Claras Ordner steckt unter dem Beifahrersitz, und als ich ihn herausziehe, kommt ein Blatt Papier mit zum Vorschein, schmutzig und zerknittert wie Dinge es sind, die aus Versehen eine Zeit lang im Auto herumgefahren werden. Es ist die Kopie einer Rechnung von vor zwei Jahren, fällig für geleistete Dienste als System Administrator, Erweiterung des Netzwerks und Pflege
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