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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Moment stehen. Auf meinem Ellenbogen landete ein Marienkäfer, einen Punkt auf jedem Flügel. Als Kind hatte man mir erzählt, man könne das Alter der Käfer an der Anzahl ihrer Punkte ablesen, aber niemand konnte mir erklären, warum es dann keine einjährigen Käfer gab. Ich berührte ihn mit dem Zeigefinger, damit er mir Glück brächte; dabei rutschte er von meinem Ellenbogen ab und fiel auf ein Grasbüschel am Fuß des Geländers, und auch dort verlor er den Halt und landete schließlich auf dem Asphalt. Er blieb auf dem Rücken liegen, bewegte die Beine und schaffte es nicht, sich alleine umzudrehen. Angeekelt wandte ich mich ab.
    Was willst du denn eigentlich in Grönland, fragte ich.
    Es wäre gut für meine Augen, sagte sie, und meinen Kopf.
    Sie berührte ihre Augenlider, dann die Stirn.
    Es wäre auch sehr teuer, sagte ich. Brauchst du Geld?
    Sofort bereute ich die Frage, aber sie schien nichts dabei zu finden.
    Ich dachte eigentlich, sagte sie, ich hätte mehr als genug.
    Mir fiel ein, dass sie wahrscheinlich reich war. Mit Sicherheit hatte sie während der vergangenen Jahre für Herbert gearbeitet; ich konnte mir nicht vorstellen, was sie sonst getan haben sollte.
    Würdest du mich mitnehmen nach Grönland?, fragte ich.
    Mann, Cooper, sagte sie, du willst da doch gar nicht hin. Behandele mich nicht wie ein kleines Kind.
    Ohne den Fischen einen weiteren Blick zu gönnen, drehte sie sich auf dem Absatz um und lief die Straße hinauf in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich ließ sie gehen. Zum Spaß fing ich in einer Ecke an, die Fische zu zählen, ich nahm den Zeigefinger zu Hilfe und stach ihn in die Luft, aber es ging nicht, das Auge rutschte ab an den glänzenden Leibern. Als ich aufgab und den Blick hob, sah ich Jessie in ein paar Meter Entfernung stehen. Sie beobachtete mich.
    Heute Abend bei mir, rief sie mir zu.
    Dann mischte sie sich in den Verkehr auf der Brücke.
    Das Einzige, was sich noch richtig bewegt in dieser Stadt, sind die Touristen, kriechend und mit gebeugten Köpfen wie Flüchtlingskonvois. Als ich es gelb aufleuchten sehe inmitten einer ansonsten schwarzhaarigen Reisegruppe, fahre ich zusammen. Auf den zweiten Blick hat das Mädchen, dessen Frisur mich erschreckte, blondierte Haare von ganz anderer Art als Jessies, sie geht dicht an mir vorbei, ich blicke in ihre leeren Züge, in denen weder Schmerz noch Freude stehen, nur ausdruckslose Erschöpfung. Offensichtlich gelange ich an einen Punkt, an dem ich bereit bin zu erwarten, dass Jessie, die ich selbst mit zerschossenem Kopf in unserer Leipziger Wohnung gefunden habe, inmitten einer italienischen Touristengruppe zu mir zurückkehren wird.
    Ich halte den Recorder für einen Moment an, um mich zu erholen. Wo das Kabel des Mikrophons über meinen Arm verlief, ist eine hellere Spur, dabei habe ich höchstens eine halbe Stunde hier gesessen. Die Sonne ist todbringend, ich frage mich, ob Clara und Jacques Chirac Asyl bekommen haben in Rufus’ klimatisierten Räumen und den Rest des Sommers dort verleben wollen. Ich frage mich nicht, was sie wirklich dort machen. Nach zwei Zügen werfe ich die Zigarette weg, sie schmeckt wie die Abgase eines Baustellenfahrzeugs und der Rauch ist viel zu heiß auf der Zunge.
    Jessie wartete unten vor dem Haus auf mich, kein Wort fiel zur Begrüßung. Wir fuhren im Inneren eines gusseisernen Käfigs nach oben, der Aufzug selbst war ganz aus Holz und seine Innenwände bedeckt mit geschnitzten Kritzeleien wie die Tischplatte einer Schulbank. Ich fand auch ein »M + J« darunter, wie Max + Jessie, dazu gehörte eine Jahreszahl aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
    Jessie stand vor mir, und ich schaute auf das Gestell aus Schulterknochen und Rückgrat, das sich unter dem dünnen T-Shirt-Stoff abzeichnete. Sie konnte kaum vierzig Kilo wiegen. Als ich ihr mein Jackett über die Schultern legte, schnellte sie herum, einen Moment lang sah es aus, als wollte sie mich in die Hand beißen, sie hatte die Oberlippe hochgezogen und einen Ausdruck unkontrollierter Wut im Gesicht. Das Jackett rutschte zu Boden.
    Cooper, zischte sie, du kannst zu Besuch kommen. Aber wenn du versuchst, mich zu bemuttern, siehst du mich überhaupt nie wieder. Und fass mich nicht an.
    Ich antwortete nicht, wir kamen oben an, sie schloss die Wohnungstür auf und ließ mich zuerst eintreten. Im Flur dehnte sich der spiegelnde Dielenboden wie ein See bei absoluter Windstille, und nichts, kein Möbelstück, keine herumliegende Zeitung,

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