Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Unterlippe trat, die helle Bissstelle des Apfels verfärbte und ihr schließlich über das Kinn lief.
    Schmeckt komisch, sagte sie.
    Mich störte das Rot auf ihrem blassen Gesicht, ich fand ein Papiertaschentuch in meiner Jacke, griff in ihre Haare am Hinterkopf und hielt sie fest, um ihr Mund und Kinn abzuwischen.
    Die Zimmer, sagte ich, tragen ab jetzt eine Nummerierung von vorne nach hinten, damit wir uns zurechtfinden. Einverstanden?
    Sie zuckte die Achseln.
    Okay, sagte sie, mir egal.
    Eine Weile starrte sie vor sich hin. Anscheinend legte sie sich Sätze zurecht, um etwas Wichtiges loszuwerden.
    Cooper, sagte sie, ich habe gelernt.
    Ihre Stimme hallte grotesk von den Kachelwänden wider, ich hätte alles gegeben für ein bisschen Straßenlärm von draußen.
    Mein Leben lang haben sich andere um mich gekümmert, sagte sie, das hat sich als Fehler erwiesen.
    Ich wartete darauf, dass sie weiterspräche, aber sie war schon fertig.
    Vom Fenster in Zimmer Zwei aus ließ sich der Praterstern überblicken. Unten lagen Rosskastanien auf der Straße, die meisten von Autoreifen zu hellem Brei zermalmt. Die wenigen unversehrten glänzten fleckig in Braun und Weiß, sie waren noch nicht ganz reif. Ich überlegte, ob Jessie ausgefallene Augäpfel von Rössern darin sehen würde, und beschloss, sie bei Gelegenheit danach zu fragen. Vielleicht ließ ihre innere Landschaft sich kartographieren. Mir wurde kühl.
    Das Licht traf die Stadt im flachen Winkel, alles wirkte übertrieben plastisch, die Dächer waren mit scharfen Schatten und optischer Tiefe ineinander gekantet, auch ich fühlte mich übertrieben plastisch, irgendwo dazwischen ins Panorama hineininstalliert.
    Oh, hörte ich Jessie, da ist der Eisverkäufer in der Zeitung.
    Ich drehte mich um und blickte quer durch das Zimmer und über den Flur hinweg bis zur hinteren Wand des Badezimmers, wo sie in gut acht Metern Entfernung von mir auf dem Klo saß. Sie hielt einen Fetzen Zeitungspapier vor sich, las etwas darauf, schüttelte dann den Kopf und wischte sich mit dem Papierstück den Hintern ab. Ich trat näher.
    Was zum Teufel machst du da, fragte ich.
    Klopapier ist alle, sagte sie.
    Und du liest die Fetzen durch, bevor …
    Unter dem Waschbecken entdeckte ich eine zerfledderte Zeitung, dann sah ich auch meine offen stehende Aktentasche daneben.
    Das ist ja meine FAZ, rief ich.
    Der SPIEGEL ging nicht, sagte Jessie, das Glanzpapier schmiert alles nur herum.
    Ich nahm ihr die Zeitung weg und las die übrig gebliebene Überschrift des Artikels, aus dem sie ein großes Stück samt Photo herausgerissen hatte.
    »Arkan der Säuberer in Belgrad interviewt. Der serbische Volksheld wirft der neuen albanischen Regierung Unterstützung der UÇK vor.«
    Ein seltsamer Zufall, die Akte dieses Mannes war erst kürzlich über meinen Schreibtisch gegangen. Ohne dass die Öffentlichkeit oder auch nur er selbst davon erfuhren, lag beim Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien seit einigen Wochen Anklage gegen ihn vor. Louise Arbour, Chefanklägerin in Den Haag und eine gute Freundin von Rufus, hatte entschieden, den Fall geheim zu halten. Es gab überall Leute in höchsten Positionen, die Arkan protegierten.
    Louise bat uns um ein Gutachten. Auf zwanzig Seiten stellte ich den Grundsatz der territorialen Integrität dar, der Eingriffe in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten verbietet, auch solche zum Zweck der Strafverfolgung. Dann wälzte ich Kommentare, interpretierte Urteile des Internationalen Gerichtshofs, las die neuesten Aufsätze der Völkerrechtslehre im Internet und entwickelte auf weiteren achtundvierzig Seiten ein Konzept, nach dem Ausnahmen von diesem Grundsatz im Fall schwerster Menschenrechtsverletzungen möglich wären. Rufus las es und ließ mich seine Meinung wissen, knapp, fast unhöflich. Mäx, sagte er, auf einem Gebiet wie dem Völkerrecht, das sich seiner Natur nach vor allem durch Schwammigkeit auszeichnet, kann man nur eins sein: Positivist. Sonst können wir unsere Disziplin auch gleich umbenennen in Weltpolitik und sie den Diplomaten und Moralisten überlassen.
    Natürlich hatte er recht. Nur dass Arkan einer der schlimmsten Verbrecher war, die auf der Welt herumliefen. Er nannte Miloˇsevi´c ein Weichei, sich selbst hingegen einen Künstler. Er gestaltete die Grausamkeiten des Völkermords mit geradezu liebevoller Phantasie. Ich spürte immer eine leichte Übelkeit, wenn ich an ihn dachte. Ich strich die letzten achtundvierzig Seiten, plädierte

Weitere Kostenlose Bücher