Adler und Engel (German Edition)
nicht mal ein Paar Schuhe, störten seine Oberflächenspannung. Ohne in eines der Zimmer sehen zu können, wusste ich sofort, dass die Wohnung leer war. Sie hatte den besonderen Hall und den unpersönlichen Atem von Räumlichkeiten, die man als potentieller Mieter zusammen mit dem Makler bei der Besichtigung betritt.
Sieh dich ruhig um, sagte Jessie.
In den ersten drei Zimmern, die durch Flügeltüren voneinander getrennt waren, fand ich nichts außer ein paar feuchten Verfärbungen an Wänden und Decke und das ungebrochene Glänzen des blonden Parketts. Im vierten Raum auf der anderen Seite des Flurs standen ein Sessel, eine Couch mit einer Art Nachtschränkchen daneben und ein Bett, alles auf seltsam verfehlte Art zueinander angeordnet. Der ganze Raum sah unecht aus, wie eine schlechte Wohnzimmerattrappe, jedes Möbelstück ein ungelungenes Zitat. Ich war sicher, dass keiner der Gegenstände benutzt wurde.
Dann gab es noch ein fünftes Zimmer, eher eine Kammer, in den hintersten Winkel der Wohnung gedrängt. Dieses Zimmer war als einziges bewohnt. An den Wänden lagen ein paar Kleidungsstücke in flachen Haufen, einige davon am Ende einer ausgebreiteten Decke als Kissen zusammengeknüllt. Ich sah ein paar leere Wasserflaschen, einen Blechtopf, der offensichtlich auch als Trinkgefäß verwendet wurde, Zeitungspapier und einen mit Klebeband verschlossenen Karton.
Noch einmal stoppe ich den Recorder, schaue in die Luftspiegelungen über dem Asphalt, die die Straße an manchen Stellen aussehen lassen wie mit Wasser bedeckt, und überlege.
Der Eindruck, sage ich dann in das Mikrophon, den das kleine Zimmer auf mich machte, muss eigentlich komplett revidiert werden, wenn ich der Erinnerung hinzufüge, dass dieser Karton wahrscheinlich mit Geldscheinen in drei verschiedenen Währungen vollgestopft war.
Ich stoppe wieder, spule zurück und lösche den letzten Satz.
Alles wirkte schmuddelig und verwahrlost, bis auf ein aufgeklapptes Funktelephon, das genau in der Mitte des Zimmers am Boden lag und sich schwarz, scharf konturiert und sachlich von seiner Umgebung abhob. Es schien versehentlich hier hineingeraten und trotzdem der wichtigste Gegenstand in der Wohnung zu sein. Es war klar, dass Jessie mich von genau diesem Gerät aus während der vergangenen Wochen angerufen hatte. Sie trat neben mich in den Türrahmen, wir starrten eine Weile gemeinsam in den Raum.
Schön hast du’s hier, sagte ich.
Bald, sagte sie traurig, sperren die mir den Telephonanschluss.
Langsam begann ich zu verstehen, dass Jessie nicht Geld fehlte, sondern die Fähigkeit, es so einzusetzen, dass sie die lebensnotwendigen Dinge dafür bekam. Die leeren Zimmer, Jessies Kleidung und vor allem ihr Gesicht, alles hier sprach vom Mangel, und ich straffte ruckartig die Schultern, um der Beklemmung standzuhalten, die mich erfasste.
Mach dir über das Telephon keine Sorgen, sagte ich, das werde ich regeln.
Ich fand noch ein schmales, schlauchartiges Badezimmer mit Klo im Fluchtpunkt und eine große Küche mit Balkon, in der nur ein Kühlschrank stand, oben drauf eine elektrische Kochplatte und davor ein einzelner Stuhl. Dann stellte ich meine Aktentasche auf dem Boden ab und atmete durch.
Am Telephon hatte sie mir davon erzählt, wie gerne sie fertiggekochte Reisbeutel mit einem scharfen Messer aufschlitzte, weil die prall gespannte Plastikfolie nach leichtem Widerstand aufplatzte wie lebendige Haut und das Messer ins weiche Innere dringen ließ. Manchmal stach sie so lange auf den Kochbeutel ein, bis der ganze Reis über den Boden verteilt lag, mit kleinen Plastikfetzen dazwischen und nicht mehr essbar. Jetzt sah ich das betreffende Messer auf dem Kühlschrank, und ich sah auch ein paar Reiskörner. Schon am Telephon hatte ich nach dieser Erzählung verstanden, dass sie ganz allein war, tagsüber und auch in den Nächten. Und das bestimmt schon seit geraumer Zeit.
Sie ließ mich in den Kühlschrank sehen, keine Lebensmittel, nur ein paar kleine Plastiksäckchen mit weißem Pulver, für den Straßenverkauf abgefüllt.
Willst du was, fragte sie.
Ich nehme nichts mehr, sagte ich.
Na so was, sagte sie.
Sie schüttelte den Kopf, sie sah enttäuscht aus. Ich erinnerte mich an einen Apfel in meiner Aktentasche, nahm ihn heraus und reichte ihn ihr. Geistesabwesend griff sie mit beiden Händen danach und biss hinein, ich verbuchte das als ersten Erfolg. Dann sah ich, wie beim Öffnen ihres Mundes das Blut aus dem angetrockneten Spalt in der
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