Adler und Engel (German Edition)
werden fast von der Straßenbahn überfahren, schaffen es auf die andere Seite und gehen an der Nordseite des Gebäudes entlang. Überall auf dem Boden liegen bunte Zettel mit staubigen Stiefelabdrücken darauf, Polizisten lehnen an Säulen und sichern den Eingang, ein paar Rumänen in orangefarbener Arbeitskleidung heben Glasflaschen auf. Auf einem der Flugblätter erkenne ich das schlecht gezeichnete Gesicht Jörg Haiders mit einem Hitlerschnurrbart auf der Oberlippe, ein sicheres Anzeichen, dass die Österreicher mal wieder versuchen, Politik zu machen. Ich kämpfe mich auf die andere Fahrbahnseite und schaffe es noch bis zum Anfang der Bartensteingasse, dann muss ich stehen bleiben. Ich habe nicht die geringste Lust, alten Bekannten zu begegnen. Die dick gemauerte Habsburgfassade, auf die Clara zugeht, leuchtet in frischem Gelb; wie nett, denke ich, haben sie endlich mal das Gebäude neu anstreichen lassen.
Auf dem Rückweg durch den Park schaufele ich ein paar Hände voll Wasser aus dem Ententeich, um sie mir ins Gesicht zu spritzen. Es stinkt. Ich frage mich unablässig, auf welche Art Clara mir dort drüben schaden könnte, und obwohl mir nur immer wieder einfällt, dass nichts auf der Welt mir noch schaden kann, beruhigt mich das nicht im Geringsten.
20 Fische zählen
D as Erste, was ich dachte, war, dass sie genau wie immer aussah.
Ich war zu früh dran, hatte ein paar Minuten gewartet und blickte instinktiv in die richtige Richtung, so dass ich sie schon von weitem entdeckte. Sie kam von der anderen Kanalseite her auf die Brücke zu, nicht aus der Innenstadt. Ich erkannte ihren leuchtend gelben Haarkranz, dessen Spitzen im Takt der Schritte wippten, die zu große Hose und das bunte Hemdchen, und es war, als hätte ich sie gerade vorhin zum letzten Mal getroffen, auf dem Schulhof oder im Speisesaal des Internats. Ich schaute an mir selbst hinunter, um mich zu vergewissern, dass ich im Gegensatz zu ihr NICHT wie damals aussah. Große Teile des Menschen, den sie gekannt hatte, existierten faktisch gar nicht mehr, waren vor Jahren eingeschmolzen worden durch Speed, ein paar Liegestütze und Gewaltmärsche; abgetrennt mit der Friseurschere; heruntergeschält von den Medikamenten des Dermatologen, die bewirkten, dass meine Haut sich am ganzen Körper in hauchdünnen, fast durchsichtigen Stücken abziehen ließ, bis hinunter in die tiefsten Schichten, in denen die Pickel gesessen hatten. Seitdem hatte mein eigener Anblick für gewöhnlich eine beruhigende Wirkung auf mich.
Es half nicht. Jessie stand jetzt am anderen Ende der Brücke unter der roten Fußgängerampel, und ich starrte sie an, als wäre sie ein Wesen aus einer anderen Welt und gekommen, um mich zu holen. Unserem Treffen hatte ich ohne bestimmte Erwartungen entgegengeblickt, mich gefreut und geglaubt, es würde keinen Unterschied machen, ihr persönlich zu begegnen, nachdem ich in den vergangenen Wochen beinahe täglich mit ihr telephoniert hatte. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mich auf fatale Weise geirrt hatte. Es machte nicht nur einen Unterschied, es war ein Schock. Ich spürte, wie mein Rückgrat sich rundete, wie meine Schultern absanken und die Arme plötzlich nutzlos herunterhingen. Ich fühlte Schweißflecken unter den Achseln und unangenehme, kalte Feuchtigkeit in den Schuhen, Anzeichen einer Lahmheit, deren Mechanismen ich längst vergessen hatte. Mit einem Mal erinnerte mein ganzer Körper sich wieder daran, wie er täglich auf dem Bett gelegen und in einem billigen Sciencefictionroman gelesen hatte, darauf wartend, dass die Heldin mit den vom Waffengurt zusammengedrückten Brüsten wieder auftauchte, und wie er sich regelmäßig fast einen Nierenschaden zuzog, weil er zu faul war, um sich auf die Toilette zu bewegen.
Die Ampel sprang auf Grün. Je näher Jessie kam, desto deutlicher fühlte ich mich als Betrüger, der sich in Kreise eingeschlichen hat, zu denen ihm eigentlich der Zutritt verwehrt war. Ich dachte daran, wie ich auf meinen immer häufiger werdenden Reisen mit Rufus die Beine in den first-class-großen Fußraum ausstreckte, während er neben mir einen Kaffee mit Cointreau trank, eine Mischung, die man seiner Meinung nach nur in Flugzeugen zu sich nehmen kann. Er sprach dabei in seiner sparsamen Art über den Sinn unseres jeweiligen »Hausbesuches«, stets ohne auf Reaktionen eines Gegenübers angewiesen zu sein. In der Schule war ich nie in der Lage gewesen, eine richtige Antwort zu geben, selbst dann nicht, wenn
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