Adler und Engel (German Edition)
sie vermisst hatte, dass das ganze Gigantenleben an Rufus’ Seite nicht perfekt gewesen war, weil ich etwas Kleines brauchte. Große Dinge wie Rufus oder ganze Nationen konnte man bewundern, belauschen oder bekämpfen, aber lieben konnte man sie nicht. Ich erinnerte mich daran, dass Jessie die erste Frau gewesen war, die freiwillig meine Hand gehalten hatte, es war ein trauriges Bild und ich selbst eine traurige Figur. Aber ich erkannte mich darin. Jetzt kam es mir vor, als hätte ich schon immer, uneingestanden, einen Unterschied gespürt zwischen mir und den anderen in der Kanzlei. Sie waren aufgegangen in den großen Dingen, während mir etwas Kleines fehlte, je kleiner, desto besser, am besten so klein wie Jessie.
Ich schob sie ein Stück weg von mir und nahm mich zusammen.
Eigentlich, sagte sie, wollte ich jetzt schon in Grönland sein.
In Grönland, sagte ich, das ist weit.
Du warst auch noch nie dort, oder?, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Sie setzte sich in Bewegung, die Radetzkystraße hinunter, und ich ging einfach neben ihr her.
Jessie, sagte ich, ich habe nicht viel Zeit, meine Mittagspause ist um eins zu Ende.
Es ist wegen der Stille, sagte sie, auch wegen der Kälte. Und vor allem wegen der Abwesenheit von Farben.
Willst du mir nicht erst mal sagen, was du während der letzten zwölf Jahre gemacht hast, fragte ich.
Alles wie immer, sagte sie. Ich habe ein Buch zu Hause, einen Bildband von der Arktis, ich zeig ihn dir mal. Das Meer ist dunkelgrau, es glänzt und sieht dickflüssig aus. Eisberge schwimmen darin, richtige Burgen und Paläste, mit Türmen und Giebeln und Balkonen und Zinnen. Die Boote der Eskimos davor sind winzig und bunt, wie Blätter in einem Burggraben. Und die Stille, weißt du, wie die Stille ist?
Total, sagte ich.
Genau, sagte sie. Totale Stille.
Sie bog in die Vordere Zollamtsstraße ein und ließ beim Gehen eine Hand über das Metallgeländer hüpfen, hinter dem die Wien fließt, am Fuß einer drei Meter hohen Mauer. Ich kannte den Wasserlauf auch in voller Stärke, dann reichte er von Wand zu Wand, war schnell und sah aus wie etwas, das »Kanal« genannt werden wollte. Jetzt floss er flach in seiner ausgepflasterten Rinne über breite, kniehohe Stufen.
Jessie, sagte ich vorsichtig, ich muss in einer halben Stunde zurück.
So weiß und still, sagte sie, kannst du dir das nicht vorstellen, Cooper?
Dieser Name war die reinste Einflugschneise für die Erinnerungen. Jedes Mal, wenn sie ihn gebrauchte, spürte ich, wie das nächste Schwadron sich näherte. Ich überlegte.
Doch, sagte ich, kann ich.
Gut, sagte sie. Ich will dir nur was zeigen. Wir gehen doch sowieso Richtung U-Bahn-Station.
Die nächsten fünfzig Schritte legten wir schweigend zurück. Dann blieb sie plötzlich stehen, fasste nach einem Zipfel meines Jacketts und zog mich zu sich heran.
Schau nur, sagte sie, verstehst du das?
Sie zeigte hinunter zum Fluss. Dort stand, über drei der Unterwasserstufen hinweg, ein Schwarm schwarzer Fische, die Köpfe gegen die Strömung gewendet, so dicht beieinander, dass das Wasser seitlich aus der Rinne gedrängt wurde, über die Rücken der Fische hinweg, und ein Stück links und rechts auf den Betonstegen entlangfloss. Das Wedeln der unzähligen Leiber, gerade genug, um nicht abgetrieben zu werden, war wie das Zittern eines einzigen, großen Tiers. Zusammen ergaben sie eine gewaltige, energievolle Masse, zehn Meter in der Länge, drei in der Breite, vermutlich viele Zentner schwer.
Schön, nicht?, sagte Jessie.
Es ist abstoßend, sagte ich.
Was machen die da?, fragte Jessie.
Ich weiß nicht, sagte ich. Wandern. Laichen. Keine Ahnung.
Wir blieben stehen, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt. Der Schwarm rührte sich nicht von der Stelle, er stand auf seinem Platz, einfach so.
Die sind schon seit Tagen hier, sagte Jessie.
Du wohnst wohl in der Nähe?
Sie antwortete nicht gleich, und während sie zögerte, sah ich sie von der Seite an. Auf ihren Wangen lagen Schatten, die Jochbeine hoben sich deutlich hervor. Sie hatte nicht einfach nur Babyspeck verloren, sie war mager geworden. Ihre Lippen waren mit einer dünnen, weißlichen Kruste überzogen, irgendein Sekret, Speichelspuren. In der Mitte ihrer Unterlippe entdeckte ich eine wulstige, dunkelrote Verhärtung, einen eingetrockneten Spalt.
Naja, sagte sie dann, vielleicht kannst du wirklich mal vorbeikommen.
Sie nannte die Adresse, Praterstraße 61, nah beim Stern, und wir blieben noch einen
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