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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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für die Unverletzlichkeit Serbiens und sicherte Arkan damit ein Leben in Freiheit.
    Jessie, sagte ich, zu wem hast du gerade eben Eisverkäufer gesagt?
    Sie zog sich die Hose hoch, drückte die Wasserspülung und versuchte, an mir vorbeizukommen.
    Ich will wissen, sagte ich, wer auf dem Bild war.
    Sie wandte den Kopf nach links und rechts, dann bückte sie sich und schlüpfte unter meinen Armen hindurch.
    Ein Bekannter von Ross, sagte sie von der Tür her, meinem Bruder.
    Ich weiß, wer Ross ist, murmelte ich.
    An der Anzahl von Füßen auf dem Überrest des Photos erkannte ich, dass insgesamt fünf Personen abgebildet gewesen waren. Einem absurden Impuls folgend, versuchte ich zu erkennen, ob bei einem der fünf Beinpaare die Hosen zu kurz und die Socken darunter mit dem Wort »Victory« bestickt waren. Dann machte ich mir klar, dass Jessie nicht Ross, sondern einen Freund von ihm erkannt hatte, und dass Ross nicht mehr dasselbe Paar Socken tragen konnte wie vor zwölf Jahren. Zwei der Beine gehörten Arkan, und die Chance, dass Jessie ihn gemeint hatte, stand eigentlich nur eins zu vier. Aber sie hatte von einem Eisverkäufer gesprochen, und ich erinnerte mich, dass Arkan zu Beginn der neunziger Jahre eine Konditorei betrieben hatte, direkt gegenüber vom Fußballstadion der »Red Star Belgrades«, unter denen er seine paramilitärischen Einheiten rekrutierte. Unklar war nur, ob und woher Jessie das wissen konnte.
    Dieses Ratespiel machte mich fertig. Ich warf die zerfledderte Zeitung zurück unter das Waschbecken, ich wollte sie nicht mehr.
    Dann stand ich wieder am Fenster. Draußen gab es eine Welt, die ich kannte, von der ich sogar wusste, nach welchen Gesetzen sie auf höchster Ebene funktionierte. In dieser Welt konnte man nicht einfach auf das Bild eines Völkermörders zeigen und »Das ist ein Bekannter meines Bruders« sagen. Ich starrte durch die Spiegelung meines Gesichts in die zunehmende Dunkelheit und übte mich darin, an gar nichts zu denken. Diese Kunst hatte ich zu Schulzeiten bis zur Perfektion beherrscht, ich konnte sogar einen interessierten Gesichtsausdruck wie eine Gardine vor meinen leeren Kopf hängen. Wenn ich heute schon unter der Wiederkehr von Vergangenem zu leiden hatte, konnte ich zumindest auch die wenigen positiven Effekte nutzen.
    Es funktionierte nicht, wie es sollte. Zwar leerte sich mein Kopf, aber dafür wuchs Sehnsucht in mir. Nach etwas Warmem, Lebendigem, das ich in den Arm nehmen und festhalten konnte. Vielleicht ging es auch nur um eine Wärmflasche oder eine Tasse Tee.
    Als ich wieder nach Jessie suchte, war es draußen endgültig dunkel. Ich fand sie in der Küche auf dem Stuhl, ganz steif saß sie da, ihr Oberkörper senkrecht, die Unterschenkel parallel zu den Stuhlbeinen, es war weniger ein Sitzen als ein sechsbeiniges Stehen. Sie sah aus, als würde sie auf ihre Hinrichtung warten. Ich begriff, dass ich jetzt sofort aus dieser Wohnung rauswollte.
    Machen wir was Schönes, fragte sie.
    Ihr Gesicht war versteinert, ich wusste nicht, ob sie mich ansah oder die Augen rein zufällig auf mich gerichtet hatte.
    Für heute ist es zu spät, sagte ich, ich muss gehen.
    Sie gab kleine Töne von sich mit jedem Atemzug, ihre Hände zitterten, sie hatte sie fest ineinander verschränkt. Ich konnte den Anblick nicht ertragen, suchte die Zigarettenschachtel in meiner Jacke und zündete zwei gleichzeitig an, V-förmig zwischen die Lippen geklemmt. Eine davon gab ich ihr. Sie musste die Finger voneinander lösen, um anzunehmen.
    Pass auf Jessie, sagte ich, ich komme morgen wieder, und dann hilfst du mir bei einem wichtigen Projekt.
    Sie zog in kurzen Abständen an der Zigarette, ihre Augen wurden größer und mehr auf mich fokussiert.
    Was denn, fragte sie.
    Wir werden Briefe senden an die Weltbevölkerung, sagte ich. Alle sollen an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde aus ihren Häusern treten und in dieselbe Richtung losrennen.
    Alle?, fragte Jessie.
    Alle, sagte ich.
    Und wozu, fragte Jessie.
    Wie wozu, sagte ich. Natürlich wird sich die Erdkugel unter unseren Füßen zu drehen beginnen, und wir fahren wie der Bär auf dem Ball ins Weltall hinaus und suchen uns ein besseres Sonnensystem.
    Sie fing an zu lachen, sie hob ein Bein und legte es über das andere.
    Cooper, sagte sie, du hast immer so verrückte Einfälle.
    Ich hatte noch nie in meinem Leben verrückte Einfälle gehabt, ich fing gerade erst damit an. Ich ging schnell auf sie zu, küsste ihre Stirn, raffte

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