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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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ich sie wusste, und jetzt schien mir verdächtig, wie sehr ich es immer genoss, Rufus schweigend zuhören zu können. An seiner Seite sah ich die Welt von oben, was nicht an der Flughöhe lag, sondern an seiner einzigartigen Fähigkeit, den Planeten als einen interessanten, aber durchaus überschaubaren Ort zu betrachten. Für ihn waren die Länder der Erde in ihrer ganzen Komplexität nichts anderes als geschlossene Persönlichkeiten mit eigener Individualität und einem durchschaubaren Charakter. Sie hatten eine Geburtsstunde und einen Todestag, eine Biographie, sie waren Prägungen ausgesetzt und Traumata, hatten Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche, sie waren arm oder reich, stark oder schwach, hatten Freunde und Feinde. Rufus selbst war ihr Arzt, ihr Richter und Priester, er bewegte sich auf einer Ebene, auf der vor allem Staaten und außer Rufus noch eine kleine Handvoll Menschen existieren konnten. Ich war sein Assistent, sah ihm über die Schulter, und oft hatte mir bei diesem Blick geschwindelt. Jetzt glaubte ich zu wissen, warum. Die Idee, dort könnte tatsächlich mein Platz sein, kam mir plötzlich vollkommen abwegig vor.
    Jessie auf der anderen Straßenseite war schon nah herangekommen, meine Fallhöhe war gewaltig. Ich fühlte mich von ihr angezogen wie von einem geländerlosen Abgrund, ich wollte auf der Stelle umkehren, bevor sie mich entdeckte, zurückrennen zur U-Bahn-Station und in mein Büro, Anweisung geben, dass Anrufe von ihrem Anschluss aus nicht mehr durchgestellt werden durften. Ich wollte meine gewohnte Arbeit wieder aufnehmen.
    Es war zu spät. Obwohl die Franzensbrücke belebt war, hatte Jessie mich über die Dächer der Autos hinweg erspäht, unsere Blicke trafen sich, und mein Schock wurde zu nackter Angst, als ich sah, dass sie mich sofort erkannte. Sie stutzte nicht einmal. Sie warf sogleich einen Arm in die Luft.
    Cooper!!, rief sie.
    Diesen Namen hatte ich zwölf Jahre lang nicht gehört. Ich winkte zurück und Jessie sprang auf die Fahrbahn.
    PASS AUF!, brüllte ich.
    Reifen quietschten, es stank nach verbranntem Gummi. Ein Autofahrer wedelte sich unbeherrscht mit der Hand vor dem Gesicht herum, dann stand sie vor mir, in Sicherheit.
    Mein Gott, sagte ich.
    Cooper, sagte sie, ich bin ganz verwirrt.
    Ich konnte mir ausrechnen, dass sie sechsundzwanzig Jahre alt sein musste. Über ihre Stirn liefen ein paar feine Linien, und sie hatte einen Ausdruck in den Augen, der zu müde war für ein Kind. Alles andere aber, ihr zu klein geratener Körper, ihre Kleidung und die Art, sich ständig mit den Händen ins Gesicht oder in die Haare zu fahren, mit den Armen zu schlenkern und von einem Bein auf das andere zu treten, machten es unmöglich, an dieses Alter zu glauben. Sie hätte zwanzig sein können, sechzehn, eigentlich sogar zwölf, sie oszillierte in verschiedenen Altersstufen, je nach Lichteinfall, vielleicht auch je nachdem, was sie gerade dachte oder sagen wollte. Jetzt hatte sie die Sonne im Rücken, und ihre Augenfarbe schien dunkler geworden mit den Jahren, fast schon schwarz, vielleicht waren auch die Pupillen unnatürlich erweitert, oder sie hatte zwei Löcher im Gesicht, in die ich hinunterrufen könnte und lauschen, ob es ein Echo gäbe.
    Auch sie schaute mich an. Als wäre ich etwas, das sie kaufen wollte, betrachtete sie meinen schwarzen Anzug und befühlte die Aufschläge der offen stehenden Jacke und das helle Hemd darunter. Die Krawatte hatte ich abgelegt und in die Tasche geschoben, Jessies Finger fanden sie dort. Während ich auf sie hinunterblickte, fielen mir unentwegt meine langen Stirnhaare in die Augen. Ich trug eine Frisur, die lässig aussah, aber nicht dazu geeignet war, eine kleine Frau aus der Nähe anzusehen. Bei nächster Gelegenheit würde ich zum Friseur gehen.
    Es ist eine große Freude, dich zu treffen, sagte Jessie. Du siehst wie ein richtiger Geschäftsmann aus.
    Und du, sagte ich, einer spontanen Eingebung folgend, bist schön wie immer.
    Sie umarmte mich, langsam, schlang die Arme um meinen Bauch, legte den Kopf gegen meine Brust und drückte zu, wahrscheinlich so fest sie konnte. Ich roch ihr Haar, das die sonnenwarme Straße und das schräger werdende Licht und eine Ahnung von Regenluft und überhaupt die ganze spätsommerliche Jahreszeit gespeichert hatte, und ich roch ihre Haut, süß und sauber, von niemandem berührt. Jessie war winzig in meinen Armen, ich hatte seit Ewigkeiten nichts so Winziges angefasst, und plötzlich wusste ich, dass ich

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