Adler und Engel (German Edition)
die sie fraß, bis sie wie ein Paradiesvogel schillerte und der ganze Urwald sich in ein Schwarzweißbild verwandelt hatte. Dann gab ich ihr meinen Taschenkoksspiegel, damit sie ihre roten Backen bewundern konnte. Sie stellte sich an den Tisch, einen Löffel in jeder Faust.
Was gibt es heute, fragte sie.
Es dauert noch, sagte ich, du brauchst dich noch nicht hinstellen.
Was gibt es, drängelte sie.
Reis mit Kant, sagte ich.
Oh nein, nicht Kant, rief sie. Können wir nicht Nietzsche dazu haben, Kant gab es doch gestern schon.
Eben, sagte ich, und Kant ist noch nicht alle. Wir müssen es aufbrauchen.
Sie stöhnte und warf das Besteck auf den Tisch, während ich ging, um das Buch zu holen.
Wir aßen aus dem Topf, ich saß auf dem Stuhl, Jessie stand neben mir. Das Buch hatte ich aufgeschlagen vor mir, ab und zu fielen ein paar Reiskörner von der Gabel und landeten zwischen den Zeilen.
Die Hauptwerke Kants, las ich vor, gehören nicht nur zu den inhaltsreichsten, sondern auch zu den schwierigsten der Weltliteratur.
Ach, rief sie, das ist kein echtes Kant, das ist nur Kant-Aroma!
Natürlich, sagte ich, zu Reis kann man echtes Kant nicht nehmen, es ist zu schwer.
Dann hätten wir auch Nietzsche haben können, maulte sie mit vollem Mund.
Von Nietzsche haben wir auch nur Aroma, sagte ich.
Ich hielt das Buch hoch: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Sie lachte so sehr, dass ihr die Hälfte der Reiskörner aus dem Mund fiel, und sie lachte oft auf diese Art während unserer Essen, aber es blieb genug übrig, was sie schluckte, und auch wenn es ihre einzige Mahlzeit am Tag war, war es jedenfalls besser als nichts, ich war zufrieden, und sie bekam wirklich mehr und mehr Farbe im Gesicht.
Clara ist in den Winkel zwischen Haustür und Wand gesunken, und als die Tür nach innen aufgeht, fällt sie zur Seite und schafft es nicht, den Ellenbogen rechtzeitig abzuspreizen, um sich aufzufangen. Ich räume meine Kokserausrüstung, die ich gerade erst ausgepackt habe, zurück in die Hosentasche, bringe Clara in die Senkrechte und zwinge den Hund auf seine Beine und auf die Straße hinaus. Die Frau, die mit dem Kinderwagen an uns vorbei aus dem Haus will, stößt meine Hand weg, als ich versuche, ihr das Gefährt die Treppe hinunterzutragen. Mir wird jetzt erst bewusst, dass uns eigentlich nur noch ein paar Plastiktüten, Flaschen und eine Mütze für die Schillingstücke fehlen, um wie perfekte Penner auszusehen. Die Frau entfernt sich, so schnell sie kann. Ich justiere Claras Gleichgewicht, der Hund kriecht in den Schatten zurück, ich warte, bis die Fassaden der Häuser sich nicht mehr wellen, in weichem Rhythmus auf mich zukommend und zurückweichend wie die Brandung am Strand, und schalte den Recorder wieder ein.
23 Goldfische
A n Wochenenden verließ ich genau wie werktags das Haus, kam abends vielleicht ein bisschen früher als sonst zurück, aber nie vor halb sieben. Ich wollte Jessie an ein bestimmtes Muster gewöhnen und mich darauf verlassen können, dass sie in der Lage war, die Tage ohne mich zu überstehen, während ich arbeitete. Die freien Stunden nutzte ich, um in meiner Wohnung in der Währingerstraße vorbeizuschauen, wo es bereits abgestanden zu riechen begann. Ich tauschte meine Klamotten, holte frische Hemden aus der Wäscherei und Anzüge aus der Reinigung und ging für ein paar Extrastunden ins Büro, um wenigstens meinen guten Willen zu zeigen. Mir war bewusst, dass ich drauf und dran war, mich ins Aus zu manövrieren. Am Rande hatte ich erfahren, dass es einen neuen Auftrag gab, irgendetwas mit Balkanbezug, definitiv mein Spezialgebiet, und Rufus ließ ein paar seiner Uni-Vorlesungen ausfallen, um nach Albanien zu fliegen. Er hatte mich nicht gefragt, ob ich mitkommen wollte, ich wusste nicht einmal, worum es ging. Wenn ich den Fehler machte, darüber nachzudenken, was eigentlich mit mir geschah, wurde ich panisch. Immer wieder nahm ich mir vor, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, abends wie gewohnt lang zu bleiben, bis zehn oder wenigstens neun. Aber schon um sechs tauchte vor meinem geistigen Auge das Bild auf, wie Jessie in der leeren Wohnung hinter der Tür saß und auf mich wartete, und ab sieben hielt mich nichts mehr auf meinem Stuhl. Ich wollte mit Rufus darüber sprechen, aber es war klar, dass Jessie sich versteckte, und solange ich nicht wusste, was mit ihr passiert und wer daran beteiligt gewesen war, sollte niemand auf der Welt erfahren, wo sie sich befand. Seit ich Rufus’
Weitere Kostenlose Bücher