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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schneidersitz, stecke eine Zigarette an und warte. Nach zwei Minuten beginnt Clara zu lächeln. Nach fünf Minuten stülpe ich ihr die Kopfhörer über und schalte die Musik an, laut. Ihr Lächeln vertieft sich, dann richtet sie sich auf.
    Kürzlich habe ich herausgefunden, dass man sich, bis auf die Unterhose ausgezogen, seitlich unter den Wasserhahn auf den bemoosten Boden setzen und das eiskalte Wasser über Bauch und Beine fließen lassen kann. Es ist fast schon bequem. Nach vier oder fünf Minuten könnte das Wasser ebenso gut brennend heiß sein wie eiskalt, solange man sich nicht bewegt, spürt man nur das Extreme der Temperatur, nicht mehr dessen Zuordnung. Nach zehn Minuten bekommt man Kopfschmerzen. Beim Aufstehen Kreislaufschwierigkeiten.
    Zwanzig Minuten später sind wir auf dem Weg in die Stadt. Die Musik scheint bei Clara die letzten Aktionspotentiale zur Entladung zu bringen, wie wenn man Salz streut auf einen toten Fisch. Das wird nicht lange vorhalten.
    Clara, frage ich, was zum Henker wollen wir schon wieder in der Stadt?
    Wie immer, flüstert sie, geht es darum, dich zum Sprechen zu bringen.
    Der DAT-Recorder schlägt mir bei jedem Schritt gegen die Hüfte, das wird einen großen blauen Fleck geben. Ab und zu wechsele ich den Riemen auf die andere Seite, der Symmetrie des Schmerzes wegen. Außer den Krankenwagen sind kaum Autos unterwegs, die überfüllten Straßenbahnen sind schwarz von Menschen, deren Körper zusammengepresste Blöcke bilden im Innern der Waggons. Möglicherweise sind sie alle bereits verendet und fahren als stangenförmige Leichenquader von Endstation zu Endstation. Wir gehen zu Fuß, der Hund hält sich hinter uns, er trägt schwer am eigenen Kopf.
    Im Schatten einer Hotelmarkise muss Clara stehen bleiben, sie krümmt sich ein bisschen. Währenddessen spiele ich mit ihren Ohren.
    Findest du nicht auch, frage ich leise, dass Shershah gut gerochen hat?
    Sie gibt keine Antwort. Ich glaube, sie würgt.
    An der nächsten Telephonzelle lasse ich sie warten und hole uns ein Taxi.
    Da drüben ist es, sage ich.
    Beim Aussteigen stolpert Clara über die Bordsteinkante, ich fasse ihren Arm, obwohl die Berührung unerträglich ist. Unser Fleisch ist aufgeheizt, als wären Mikrowellen in der Luft, die uns von innen heraus gleichmäßig garen.
    Welches Haus, fragt sie.
    Sie hält sich mit beiden Händen den Bauch zusammen, vielleicht würde sonst die Bauchdecke abfallen oder irgendetwas durch den Nabel herauslaufen, das drinnen bleiben sollte. Sie steht so gebückt, dass sie den Kopf schief legen und die Augen verdrehen muss, um auf die andere Straßenseite sehen zu können.
    Das Eckhaus da, sage ich, die Wohnung war ganz oben, fünfter Stock.
    Schöne Gegend, sagt sie durch zusammengepresste Zähne.
    Gehört zum Zweiten Bezirk, sage ich.
    Dann helfe ich ihr, sich auf den Stufen des Hauseingangs niederzulassen, vor dem wir stehen.
    Liebling, sage ich, du wirst nicht sterben. Ich erzähle dir was, und solange du mich noch hörst, weißt du, dass du am Leben bist.
    Bitte, fleht sie, blas den Zigarettenrauch in eine andere Richtung.
    Der Hund zieht sich so weit wie möglich in den Schatten zurück, ich setze mich so, dass ich mit einem Fuß Claras Oberkörper vom Umkippen abhalten kann. Es ist unnatürlich still auf der Straße, es knackt scharf, als ich den Recorder anschalte.
    Seit ich in die Wohnung kam, hatten sich ein paar Details verändert, und darauf war ich stolz. In der Nähe der Wohnungstür hatte ich einen Nagel eingeschlagen, an den ich meine Jacke hängen konnte, wenn ich eintrat. In der Küche standen ein elektrischer Wasserkocher und zwei Tassen auf dem Kühlschrank. Vom Straßenverkauf am Naschmarkt hatte ich eine Kiste Bücher gebracht, die nach Keller stanken und überhaupt nichts miteinander zu tun hatten. Das schadete nichts. Ich hatte herausgefunden, dass es Jessie manchmal beruhigte, wenn ich ihr vorlas, und es war ganz gleichgültig, um welchen Text es sich dabei handelte. Wichtig war nur, dass die von mir gesprochenen Wörter haargenau mit der Schrift auf dem Papier übereinstimmten, und das überprüfte sie pedantisch, indem sie andauernd den Hals reckte und im Buch die Zeilen mitverfolgte. Die genaue Entsprechung zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort schien ihr irgendwie Halt zu geben, während alles andere um sie herum, Gegenstände, ich, Zimmerdecke und Boden, die Teile ihres eigenen Körpers, das Buch an sich und meine Worte an sich den Aggregatzustand von

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