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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Namen einmal aus ihrem Mund gehört hatte, schien sich zwischen ihr und ihm eine Kluft aufzutun; ohne zu wissen, warum, wuchs das Gefühl, dass ich mich entscheiden musste. Zum ersten Mal befand ich mich in einer Situation, in der es unmöglich war, sich Rufus anzuvertrauen.
    Die Straße riecht nach heißem Asphalt und ausgespucktem Kaugummi. Für ein paar Minuten lasse ich Clara und den Hund allein und kaufe eine Flasche Wasser im Supermarkt an der Ecke, wo ich auch immer den Reis kaufte für Jessie. Ich schütte etwas Mineralwasser in die hohle Hand und träufele es über Claras Gesicht. Die Kohlensäureblasen bleiben eine Sekunde darauf sitzen wie eine Gruppe gläserner Flöhe, bevor sie zerplatzen. Auch für den Hund gieße ich Wasser in die Hand, er fängt es auf mit kräftigen Schlägen seiner großen Zunge, ohne auch nur den Kopf zu heben. Einzelne Menschen schwanken auf die Häuser zu und lassen sich in Eingänge fallen, von denen ich weiß, dass sie gekachelt sind und kühl, dass Werbepost unter den Blechbriefkästen am Boden liegt und ein Kinderdreirad die Hintertür zum Hof versperrt. Ich fühle mich allein.
    Clara, sage ich, es gibt seit meiner Geburt einen Misston in meinem Kopf, der wird allein durch die Tatsache erzeugt, dass ich am Leben bin, und ist so unerträglich wie das Kreischen langer Fingernägel auf einer Wandtafel. Manchmal, wenn es zu still ist, schwillt dieser Ton an und es gibt kein Entkommen.
    Ich glaube nicht, dass sie mich hören kann.
    Es gab mal einen Mathelehrer, sage ich, der schrieb immer nur mit Kreidestücken von der Größe einer Erbse, und ich saß da und starrte hypnotisiert auf seine zu langen Fingernägel, zwischen denen die Kreide klemmte und in schwungvollen Bögen und Linien von links nach rechts über die Tafel fuhr. Die geometrischen Figuren dieses Lehrers waren Spiegel meines Bewusstseins, Diagramme peinvoller Schreie.
    Ich will diese Sätze in den Recorder sprechen, aber als ich das Gerät anschalte, habe ich alles vergessen bis auf die letzten beiden Wörter, die dafür auch haften bleiben und sich sinnlos wiederholen: peinvolle Schreie, peinvolle Schreie.
    Und hast du heute schon was gegessen?, fragte ich.
    Ja, sagte Jessie.
    Vorsichtig hob ich ihr T-Shirt an, betrachtete ein paar Sekunden diesen glücklichen Bauchnabel darunter, sauber wie das perlmutterne Innere eines Wasserschneckenhauses, und schnupperte eine Handbreit über dem Hosenbund.
    Was machst du da?, fragte sie.
    Aber sie scheuchte mich nicht weg.
    Ich finde heraus, was du gegessen hast, sagte ich.
    Durch die Bauchdecke willst du das riechen?, fragte sie.
    Oh ja.
    Und in der Tat roch ich etwas, Zitrusfrüchte, es war ein Glück, dass sie nichts essen konnte, ohne sich aufs Hemd zu tropfen.
    Orangen, sagte ich.
    Das stimmt!, rief sie begeistert.
    Ich nickte sachverständig und schloss ihr T-Shirt über der getanen Arbeit. Als ich mich umdrehte und ging, stolzen Schrittes, um vom Nagel im Flur meine Anzugjacke zu holen, spottete sie mir nach in bestem Gassenwienerisch.
    Seht den Gumminäsler, rief sie, den Hilfsschüler, den Hirnwichser!
    Ich verwandelte mich für sie in einen pickligen Lederjackenjüngling und schwenkte eine imaginäre Dose Bier aus dem BILLA-Regal, bevor ich in meinen aufgemotzten Escort stieg, der neben der Zimmerschwelle geparkt war.
    Tschüs Schätzchen, sagte ich.
    Und brauste mit Kavaliersstart in die Küche, wo meine Aktentasche stand, in der sich seit Wochen keine Akten mehr befanden, sondern, heute, ein Beutel Kiwis, und ich nahm eine heraus und brachte sie ihr.
    Nimm, sagte ich, und dann steig ein.
    Sie trat neben mich, knallte die unsichtbare Autotür zu, dann rannten wir nebeneinander die Treppe hinunter. Unterwegs biss sie in die haarige Schale der Kiwi, auf der noch der bunte, ovale Aufkleber des Südfruchthändlers klebte. Den schluckte sie auch mit. Schälen kam nicht in Frage, da der einzige Grund, aus dem sie Kiwis aß, darin bestand, dass die pelzige Schale sich zwischen den Zähnen anfühlte, als würde man in eine Maus beißen. Genauso akzeptierte sie Orangen nur, weil sie herausgefunden hatte, dass es eine angenehme Beschäftigung war, die innere, weißliche Haut in Streifen abzuziehen.
    Auf der Straße blies uns der kühle Wind ins Gesicht und riss Blätter aus den Ästen der Bäume. Ab und zu schlug eine Kastanie auf den Boden wie ein kleiner grüner Morgenstern. Mit Jessie neben mir bildete ich mir ein, dass Herbst und Winter schon immer meine liebsten

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