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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Jessie saß aufrecht und sah lebhaft aus. Ich wusste nicht, ob ich geschlafen hatte, vielleicht auch geträumt. Irgendwie waren wir immer noch im Park, und mir fiel wieder ein, dass wir ins Restaurant wollten und ich mir außerdem vorgenommen hatte, sie etwas zu fragen.
    Goldfische, sagte sie, schwimmen im Aquarium hin und her, und auf dem Rückweg haben sie den Hinweg schon vergessen und auf dem Hinweg den Rückweg.
    Im Liegen zog ich ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche, es war die Farbkopie einer Zeitungsseite, und das Photo darauf zeigte die Popsängerin Ceca, gleichzeitig Eigentümerin mehrerer jugoslawischer und albanischer Kreditinstitute, umringt von acht Kindern, von denen nur eins das ihre war, ich wusste nicht, welches. Etwas abseits stand Cecas Ehemann, Arkan, und grinste feist in die Kamera.
    Jessie, fragte ich, hast du diesen Mann schon mal in echt gesehen?
    Ich bemerkte den heimlichen, blitzschnellen Blick, den sie unter gesenkten Augenlidern auf das Papier warf.
    So denken sie immer, sie seien im großen Meer, sagte sie.
    Ich faltete das Blatt wieder zusammen.
    Goldfische, sagte ich, leben im Süßwasser.
    Sie beugte sich zu mir herunter, dass ihr die Haare von allen Seiten ins Gesicht hingen.
    Du verstehst gar nichts, sagte sie heftig, Goldfische sind so dumm, dass sie auch den Unterschied zwischen Salz- und Süßwasser nicht kennen.
    So weit bringst du es auch noch, sagte ich.
    Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, dabei hatte sie den ganzen Mund voller Abendlicht, was von den Goldfüllungen in ihren Zähnen kam. Der Himmel über ihr war hell und weißlich wie durch ein ausgetrunkenes Milchglas betrachtet. Dann streckte sie die Hand aus, um mir ein Haar aus der Stirn zu wischen, ließ die Hand auf meiner Backe liegen und beugte den Kopf noch weiter, um mich irgendwo ans Ende der Augenbraue zu küssen, und als sie das Gleichgewicht verlor und nach vorne kippte, rutschten mir ihre Lippen über die Schläfe zum Ohr. Ohne mich ansonsten zu rühren, knüllte ich die Kopie zusammen und warf sie in die Wiese. Der Teufel sollte das alles holen, die Vögel und bellenden Hunde und spielenden Kinder und den weißen Abendhimmel, und auch Arkan sollte er holen sowie sämtliche Farbkopien von all dem. Mein Mund grinste, als hätte jemand eine Banane quer hineingesteckt.
    Max, flüstert Clara, ich halte das nicht aus, ich MUSS nach Hause.
    Ich bin noch nicht fertig, sage ich.
    Ich bereite die nächste Miniportion Koks für sie vor, während ich weiterspreche.

24 Tiger (Zwei)
    M anchmal hatte Jessie eine Art, abwechselnd an der Lippe zu fingern, darauf herumzukauen, an ihren Haaren zu zerren und die Haut am Rand eines Nagelbetts wegzukratzen, dass es nicht mit anzusehen war. Sie suchte sämtliche Stellen ihres Körpers nach kleinen Verletzungen ab, die sich aufreißen ließen, sie fuhr mit einem Fingernagel unter den anderen, um Dreckspuren zu entfernen, sie löste Schuppen am Haaransatz ab, sie bohrte in der Nase, alles immer mit einer freien Hand, während sie mit der anderen rauchte, die Kerze befummelte oder sich einfach an der Tischkante festhielt. Es war, als wollte sie sich selbst Stück für Stück abtragen und in alle Winde zerstreuen. Es machte mich nervös, am liebsten hätte ich sie gefesselt. Ab und zu griff ich über den Tisch und betupfte sie mit einem Papiertaschentuch, irgendeine blutende Stelle in ihrem Gesicht oder auf den Armen.
    Dann haben sie plötzlich angerufen, sagte sie.
    Wer denn überhaupt, fragte ich.
    Na die Großmütter, sagte sie.
    Sie griff in den Tomatensalat und schob sich ein Stück Rot in den Mund. Sie kaute nicht.
    Man weiß nicht, sagte sie, woher sie meine Nummer kannten. Vielleicht von Herbert.
    Das Tomatenstück behinderte sie beim Sprechen, es klang nuschelig.
    Bestimmt, sagte ich.
    Herbert hat es mir ausgerichtet. Dass ich hinfahren soll, dass sie meine Hilfe brauchen. Oder vielleicht war es Shershah.
    Moment mal, sagte ich, wer hat wen angerufen und was gesagt?
    Die Großmütter, sagte sie, den Shershah.
    Was nun, Shershah oder Herbert?, fragte ich.
    Ja, sagte sie.
    Ich zog den Tomatensalat von ihr weg, die Gäste am benachbarten Tisch schauten ständig zu uns herüber. Der Kellner kam, brachte Wein und siezte Jessie.
    Also, sagte ich, dir wurde ein Anruf ausgerichtet, dass du irgendwohin kommen musst.
    Ja, sagte sie, hör doch, weißt du, was sie wollten?
    Nein, sagte ich.
    Alles lag am Boden, sagte sie, Klamotten, Besteck, Papiere. Sie hatten keine Decken

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