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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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fest zu flüssig zu gasförmig wechselten und ihr gepeinigtes Bewusstsein mit sich selbst allein ließen. Der Bücherkarton in Zimmer Drei stand bereit wie ein Erste-Hilfe-Kasten, dessen Inhalt im Notfall manchmal lindern, allerdings niemals heilen konnte.
    Ein Paar gebrauchter Armeestiefel hatte ich ihr gekauft, für die kalte Jahreszeit, sie standen im Flur, und ab und zu ging sie dorthin, um sie zu besuchen. Dann gab es noch eine neue Campingmatte zum Ausrollen aus dem Sportgeschäft. Mit einer richtigen Matratze hätte sie mich niemals in die Wohnung gelassen.
    Die revolutionärste aller Neuerungen aber hatte ich am Stubenring aus einem Baucontainer gezogen, mir auf den Rücken geladen und die ganze Praterstraße entlang bis vors Haus geschleppt. Ich klingelte, bis Jessie sich oben aus dem Fenster in Zimmer Eins lehnte.
    Komm runter, rief ich, hilf mir tragen.
    Niemals, schrie sie, das kommt mir nicht in die Wohnung.
    Ihre Stimme hallte durch die Gasse, Menschen unterbrachen ihren Weg, um wie ich den Kopf in den Nacken zu legen und nach oben zu sehen.
    Bitte, rief ich so gedämpft wie möglich, ich schwöre, es ist das Letzte, was ich bringe.
    Nein, kreischte sie noch lauter, hau ab mit dem Ding und komm am besten selbst nicht wieder. Ich will dich NIE wieder sehen!
    Es wurde gefährlich. Wenn bei Jessie der Trotz erwachte, konnte sie mit verschränkten Armen und gerecktem Kinn rückwärts auf den Asphalt fallen und sich den Schädel einschlagen, zu verbockt, um sich abzufangen. Ich spürte deutlich, dass es demnächst so weit war. Sie schrie noch immer, ich sah sie in der Fensteröffnung toben, über ihr der Dachfirst und dann der blaue Himmel, in dem die Möwen kreisten, als wäre ein Meer in der Nähe, dabei kamen sie nur, um nach dem Dreck in den Straßen zu tauchen. Ich brauchte eine Idee, eine schnelle, großartige Idee. Ich hatte Zeit, solange Jessie noch aus dem Fenster hing. Und dann schickte mir der Herr eine Inspiration.
    Er ist alt, er stirbt!
    Ich brüllte es so laut, dass sie mich trotz ihres eigenen Gezeters hören konnte. Sie verstummte augenblicklich.
    Ich komme runter, sagte sie.
    Das Fenster schlug zu. Fast im gleichen Augenblick, so kam es mir vor, wurde die Haustür von innen geöffnet, Jessie musste auf dem Treppengeländer heruntergerutscht sein. Ich lächelte, sie blieb ernst. Der Tisch war alt und schwer, vollgesogen mit Wasser, nicht mehr als die Essenz von einem Tisch. Vier Beine und eine Platte.
    Tisch, das ist Jessie, sagte ich. Jessie, das ist Tisch.
    Hallo, hauchte sie.
    Es wäre erheblich einfacher gewesen, ihn alleine die Treppe hochzuschaffen, denn Jessie war zu klein und wollte auch noch unten gehen, so dass ich mich unentwegt bücken musste und mir die Schienbeine fleckig schlug. Aber sie war eifrig und mit fliegendem Atem bei der Sache, warnte in jeder Kurve, nicht gegen das Geländer zu stoßen, und ich ließ sie gewähren. Wir stellten den Tisch in der Küche unter das Fenster. Jessie streichelte seine Platte.
    Er ist schön, sagte sie zärtlich, wo hast du ihn gefunden?
    Im Müll, sagte ich, er sah so traurig aus.
    Aus verhangenen Augen schaute sie zu mir hoch.
    Gut, dass er jetzt hier ist, sagte sie.
    Ich nickte.
    Schau, sagte ich, was ich für ihn gebracht habe.
    An der Beuge meines linken Arms schaukelte eine kleine Tüte, in der sich zwei Kochbeutel Reis befanden. Sie verstand sofort. Der Tisch würde sich freuen, wenn auf ihm gegessen wurde. Das war sein Job. Von da an wurde es einfacher, Jessie zu füttern, und als wir ein paar Wochen später die Wohnung fluchtartig verlassen mussten, war der Tisch das Einzige, von dem sie sich verabschiedete.
    Sie lief mir entgegen, wenn ich abends kam. Ich brachte etwas Kaffee mit und ein paar Päckchen Zucker, in den Hosentaschen aus der Kanzleiküche geschmuggelt, und ich brachte Reis, immer Reis, denn sie gewöhnte sich ans Reisessen und betrachtete es nicht mehr als Nahrungsaufnahme, sondern als ein Ritual. Wir kochten ihn doppelt so lange, wie es die Zubereitungsanweisung empfahl, sie schnitt den Beutel auf, gefasst wie ein Chirurg beim Öffnen einer Bauchdecke, und ich ließ die Masse in einem Stück in den Blechtopf fallen. Wir streuten Salz darüber, und wenn ich eine Tomate dabeihatte, zerquetschte ich sie in der Faust und träufelte den Saft über den Reis. Den ausgedrückten Rest durfte ich ihr in den Mund schieben, wenn ich vorher die Geschichte von der Schlange erzählte, die immer bunter wurde von den farbigen Dingen,

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