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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Jahreszeiten waren; ich dachte an künftige Spaziergänge im Praterpark, Blättergeraschel unter den Füßen, während über den angegilbten Baumkronen die Gondeln des Riesenrads vorbeiwanderten, groß und rot wie die Straßenbahnwaggons in der Innenstadt. Und im Dezember würde ich Jessie in einen dicken bunten Wollpullover packen und durch den ersten Schnee rollen.
    Darf ich dich mal anfassen, fragte ich.
    Nein, sagte sie.
    Schön, sagte ich. Gehen wir was essen.
    Zum Döner-Palast, sagte sie.
    Und wo ist das, fragte ich.
    Neben dem Fritten-Tempel, sagte sie, gegenüber vom Wurst-Schloss, gleich hinter der Pizza-Kathedrale und den Gyros-Villen.
    Ich lachte, ihr war es natürlich scheißegal, wo wir hingingen, weil sie sowieso nichts anrühren würde, aber ich brauchte wenigstens am Wochenende eine anständige Mahlzeit.
    Obwohl es uns nirgendwohin führte, wollte sie erst mal durch den Park. Überall auf den Wegen roch es nach Menschen, nicht nur nach Rentnern und Kindern, nach allen Arten von Menschen, ansonsten nach Herbst und ein bisschen nach Zuckerwatte.
    Als Jessie mir das Gesicht zuwandte, war auf der rechten Backe eine Tränenspur.
    Warum, fragte sie, willst du mich immer anfassen?
    Das war eine schwierige Frage, auf die mir so schnell keine klärende Antwort einfiel.
    Weil es schön ist, sagte ich lahm.
    Für dich vielleicht, sagte sie, aber nicht für mich.
    Im Grunde wusste ich das, trotzdem war es schockierend, es so deutlich aus ihrem Mund zu hören. Ich kam mir bescheuert vor. Bestenfalls.
    MUSST du denn Frauen anfassen, fragte sie.
    Nein, antwortete ich sofort.
    Das ist gut, sagte sie, weil ich nicht mit dir KANN. Du musst trotzdem bei mir bleiben. Sonst habe ich niemanden.
    Jedes ihrer Worte tat weh, eine Serie von Schnitten über mein Bauchfell. Ihr jetzt etwas erklären zu wollen, war sinnlos. Ich räusperte mich.
    Und was ist mit Ross, fragte ich.
    Herbert und Ross, sagte sie, bringen mich um, wenn sie mich finden.
    Das Gespräch glitt mir aus den Fingern, Jessies Augen waren zu weit offen, ihr Atem ging zu schnell, und dann wurde ich plötzlich auch noch den Gedanken daran nicht mehr los, wie es wäre, tatsächlich mit ihr zu schlafen. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt so unverhohlen daran dachte, und ich fühlte mich pervers, obwohl sie sechsundzwanzig war und nicht mit mir verwandt.
    Übertreib nicht, sagte ich, das sind dein Vater und dein Bruder.
    Jetzt nicht mehr, sagte sie, bedauerlicherweise.
    Wir setzten uns auf die Wiese, lauschten den Vögeln, dem Rufen der Kinder und den bellenden Hunden, die in einiger Entfernung auf dem Rasen spielten. Es war ein ganz normaler Tag.
    Du brauchst es ja nicht zu glauben, sagte Jessie schließlich. Immerhin haben sie auch Shershah umgebracht. Und dich wollen sie bestimmt auch bald.
    Was habt ihr nur angestellt, flüsterte ich.
    Sie antwortete nicht. Sie flocht die Grashalme der Wiese zu Zöpfen.
    Cooper, sagte sie leise, alleine komm ich nicht klar.
    Ich ließ mich auf den Rücken fallen, ich schloss die Augen und spürte, wie es zweitrangig wurde, worum es hier eigentlich ging. Ich legte die Hände zusammen und schwor der Wiese und dem Himmel und den Bäumen, immer bei Jessie zu bleiben.
    Hör auf damit, sagt Clara, das ist so was von abgefuckt.
    Ich wundere mich, dass sie überhaupt noch in der Lage ist, irgendetwas wahrzunehmen, geschweige denn zu sprechen, und was sie gesagt hat, ärgert mich. Ihr Kopf ist so weit in den Nacken gebogen, dass die Halsschlagadern hervortreten wie auf Putz verlegte Elektrokabel. Ich bekomme Lust, meine beiden Daumen fest darauf zu pressen und zu gucken, was passiert.
    Hast du gerade gesagt, frage ich, dass ich aufhören soll, deine bescheuerten Tonbänder voll zu sprechen?
    Mir ist schlecht, flüstert sie.
    Das weiß ich schon, sage ich.
    Nein, sagt sie, ich meine: jetzt wirklich.
    Liebling, sage ich, ich erzähle das noch zu Ende und dann …
    Bitte, fleht sie, sei ruhig. Du machst mich krank.
    Ich mache überhaupt nichts, sage ich.
    Es fühlt sich an wie ein Fade-out, sagt sie, und du sitzt am Regler.
    Der Mann trägt die Schuld, sage ich, und die Frau die Schmerzen. So war das schon immer.
    Ich fleh dich an, sagt sie, verschone mich.
    Ich wende mich ab von ihr. Sie ist verrückt geworden.
    Weißt du was, sagte Jessie, Goldfische sind so was von dumm.
    Ich öffnete die Augen. Ganz oben waren Vögel am Himmel, sie wirbelten durcheinander wie stäbchenförmige Einzeller auf dem Objektträger eines Mikroskops.

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