Adler und Engel (German Edition)
Pause. Jessie war hängen geblieben, zwirbelte unablässig dieselbe Haarsträhne und kam von der Erinnerung an den Hund nicht los; ich wusste, dass sie in diesem Moment wieder und wieder an ihn dachte. Ich schlug die Speisekarte auf und studierte das Angebot von Nachspeisen.
Heiße Himbeeren mit Schlagsahne, sagte ich nachdenklich, Weingelee auf Fruchtspiegel.
Sie waren sowieso gerade fertig mit ihrer Besprechung, sagte Jessie. Franki war verschwunden. Vor dem Hotel stand ein langer Wagen mit schwarzen Scheiben, und als ich drin saß, merkte ich, dass man auch von innen nicht durchsehen konnte. Ich wollte sowieso nichts mehr sehen von dieser Stadt. Ross saß mir gegenüber, wir haben zusammen geraucht und die Asche überall hingeworfen, nur nicht in den Aschenbecher. Die Fahrt hat ewig gedauert.
Bayerische Creme, sagte ich.
Das Haus war eigentlich eine Schule, sagte sie, von Männern umstellt. Die hatten Skimasken auf und Cowboyhüte drüber, lächerlich sah das aus. Ross hat mir dann den Weg beschrieben und mir eine riesige Tüte Weintrauben in die Hand gedrückt. Ich musste rein, während die anderen draußen gewartet haben.
Weintrauben im Schokomantel, sagte ich.
Ich bin fast immer durch einen Raum gekommen, sagte sie, in dem hundert Gesichter vom Fußboden zu mir raufstarrten, Männer, Frauen und Kinder. Jemand hatte sie auf den Boden geworfen wie ein großes Kartenspiel.
Ich schaute von der Speisekarte auf und in Jessies Gesicht, es war so merkwürdig zu erfahren, dass sich solche Bilder hinter dieser Stirn befanden, Bilder von Dingen, die ich aus den Berichten der Menschenrechtsorganisationen kannte.
Das waren Ausweisdokumente, oder?, sagte ich. Pässe, Personalausweise, Mitgliedskarten aller Art, was man so in Brieftaschen findet.
Einmal blieb ich stehen, sagte Jessie, und schaute mir das genauer an. Ich kriegte ein komisches Gefühl. Ich nahm meinen eigenen Personalausweis und warf ihn zu den anderen, mit dem Gesicht nach oben. An der Grenze hatte ich ihn dann nicht mehr. Ross ist ziemlich ausgeflippt.
Kann ich mir denken, sagte ich.
Es lag noch anderer Kram herum, Baseballschläger, in die das Wort »Cestitamo« geschnitzt war. Weißt du, was das heißt?
Willkommen, sagte ich.
Genau, sagte sie, du kannst wohl auch ein paar Sprachen?
Hmhm, machte ich.
Die Großmütter, sagte sie, waren ganz hinten in einem Raum zusammengedrängt. Ihre Sachen lagen auf dem Boden. Dazwischen Bretter, durch die an einem Ende lange Nägel geschlagen waren. Und an einer Wand standen diese Betten mit den Lederschlaufen am Kopfende. Die Großmütter starrten mich an, als wäre ich ein Geist. Die meisten waren so alt wie ich. Dann fing ich an. Ich musste so lange Trauben essen, bis sie auch welche wollten, und dabei ein bisschen von mir erzählen.
Langsam begann ich, diese Idee zu begreifen, die Idee, Jessie als eine Art Boten zu verwenden, als Vermittlerin. Es war ein verrückter, aber gerade deshalb genialer Einfall, denn wenn es auf der Welt eine Person gab, vor der noch nicht einmal ein Folteropfer Angst haben konnte, dann war es Jessie.
Ich habe ihnen immer erzählt, sagte sie, dass ich die Tochter von einem wichtigen Mann bin. Dass ich mit ihm arbeite und einen anderen liebe, mit dem ich auch arbeite und der sehr schön ist. Mit langen schwarzen Haaren.
Übrigens, sagte ich, wo war der Bastard eigentlich die ganze Zeit?
Reflexartig kniff ich mir selbst unter dem Tisch in den Oberschenkel. Einen Moment nicht aufgepasst. Gott sei Dank schien das Wort »Bastard« Jessie nicht weiter zu stören.
Der war nicht mit, sagte sie. Aber den Großmüttern hat es gefallen, von ihm zu hören. Manche haben versucht, mir über den Kopf zu streicheln, als wäre ich krank. Ich bin ausgewichen. Dann habe ich ihnen die gute Nachricht gesagt. Mein Vater, der sehr wichtig ist, hat etwas versprochen. Jede von ihnen kommt raus, die fünf Weintrauben schlucken kann. Aber unzerkaut. Das ist schwierig, ich habe es selbst immer versucht, wenn ich mit ihnen übte. Aber die meisten schafften es schon nach ein paar Versuchen. Sie gaben sich schreckliche Mühe. Ich erklärte ihnen, dass sie mit vielen anderen Menschen zusammen über die Grenze gebracht würden. Das hörten sie gern, und ich habe ihnen beim Rasieren geholfen.
Warum denn rasieren, fragte ich.
Damit man sie wiederfindet, sagte Jessie. In diesen Gegenden waren die Felder und Hänge schwarz von Menschen, besonders entlang der Zäune. Man sieht es von oben gut, wenn so ein
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