Adler und Engel (German Edition)
ist mit mir davongefahren. Ich habe die ganze Fahrt lang geschrien, weil ich daran denken musste, dass ich auf Shershahs Leben geschworen hatte.
Was ein Horrorfilm, sagte ich, was ein verdammter Horrorfilm.
Später haben wir Herbert in Wien getroffen, und ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr mitmache. Er sagte, er regelt das alles und wir machen weiter.
Verdammte Arschlöcher, sagte ich, diese gottverdammten Arschlöcher.
Ich sagte: nein. Ross sagte auch: nein. Dann brüllten wir alle drei, ich am längsten. Herbert fragte, ob ich wieder eingesperrt werden will, und Ross hat die Hand gehoben, wie um ihn zu schlagen, und gerufen, dass die ganze Balkansache von Anfang an ein Wahnsinn war. Schließlich hat Herbert gesagt, gut, dann für Jessie ab heute wieder nur noch Bootfahren. Ich sagte auch, gut, aber nur, damit ich gehen konnte. Ich wollte überhaupt nicht mehr mitmachen, ich wollte nur zu Shershah und ihm erklären, dass wir wegmussten. Den Schwur konnte ich ja nicht mehr einlösen. Ich wusste, dass Shershah sterben würde und dass alles meine Schuld war. Ich wollte nach Grönland.
Als Jessie aufschaute, bemerkte sie den Hass in meinem Gesicht und verbarg sofort den Kopf in den Armen. Ein paar ihrer Haarsträhnen fielen in den Tomatensalat, ich nahm sie heraus. Der Hass war angenehm, er war besser als Koks, er befreite mich mit einem Schlag von allen Gedanken an Rufus, Louise, den ganzen Olymp und die Weltpolitik, mit einem Schlag sah ich klar. Ich fühlte nur noch Abscheu vor jedem, der dazu beigetragen hatte, einen Menschen wie Jessie in eine Hölle wie diese zu bringen. Mit einem einzigen, wohlbemessenen Schritt hatte ich die Grenze überschritten. Ich schaute nicht mehr von oben auf die Dinge. Ich war draußen. Ich war zum Privatmann geworden, mit einem kleinen, schmerzlosen Ruck.
Können wir jetzt was Schönes machen, fragte Jessie unter ihren Armen.
Und Shershah, fragte ich, wollte der nach Grönland?
Nein nein nein nein.
Und sie hob die Stimme an, bis wieder alle im Restaurant sich nach uns umdrehten.
Pssssst, machte ich, Jessie, wollte er mitkommen?
Als sie sich aufrichtete, wünschte ich, sie wäre auf dem Tisch liegen geblieben. Über ihre Stirn liefen Linien, die vom Kerzenlicht zu Gräben ausgebaut wurden, ihr Mund stand eingezäunt in der Mitte eines Faltentors und ihre Augen waren leer. Für einen Moment erblickte ich eine Maske, eine Parodie auf Jessies Gesicht, von ihren Originalhaaren umgeben und mich mit halb geöffneten Lippen anstarrend.
Ich wollte nach Grönland, sagte sie. Shershah wollte mit mir gehen. Er sagte, wir brauchen nur etwas mehr Geld, bevor wir aufbrechen. Mindestens so viel, wie wir immer im Boot hatten.
Dann erzeugte sie eine Art Lächeln.
Und warum seid ihr nicht bis Grönland gekommen?
Nein nein nein nein nein, fing sie wieder an.
Über die Schulter sah ich, dass ein Mann sich unserem Tisch näherte, der Restaurantbesitzer oder der Chefkoch oder Oberkellner, was wusste ich, ich trippelte mit den Fingern durch die Luft, zum Zeichen, dass wir verschwinden würden, und er blieb abwartend stehen.
Gut, es ist gut, sagte ich. Jessie, wir gehen woandershin.
Das Lächeln hatte sie immer noch nicht beseitigt, und es war so krank, dass ich beschloss, nicht mehr nachzufragen, es war nicht mehr wichtig. Jessie brauchte Schonung, nichts anderes, Schonung und jemanden, der sich um sie kümmerte. Ich legte tausend Schilling auf den Tisch, fasste ihren Arm und schob sie vor mir her durch den Ausgang. Auf der Straße spuckte sie das Tomatenstück aus, daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, es war schon weißlich geworden. Sie stand krumm, ein bisschen verdreht, wie falsch zusammengeschnürt. Sie tat mir unendlich leid.
Er ist nicht mitgefahren, weil er tot ist, sagte sie, weil sie ihn umgebracht haben.
Ich widersprach nicht, obwohl ich nicht daran glaubte. Konnte sein, dass er inzwischen tot war, aber dass er jemals ernsthaft vorhatte, mit Jessie auszuwandern, hielt ich für undenkbar. Viel eher wollte er den Vorfall nutzen, um auszusteigen, natürlich nur mit angemessener finanzieller Ausstattung. Vielleicht hatte er Angst, dass Jessie überschnappte und er seinen Job als ihr gut bezahlter Gefährte ohne eine Abfindung verlieren würde. Vielleicht hatte er auch schon länger keine Lust mehr darauf gehabt, aber nicht gewusst, was er sonst anfangen sollte. Oder die Sache auf dem Balkan war ihm eine Nummer zu groß. Wahrscheinlich kam alles zusammen. Jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher