Adler und Engel (German Edition)
sie.
Jetzt wusste ich die Gegend und auch, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit über das Jahr 1995 sprachen, in dem sich ein wichtiges Hauptquartier der »Tigers« in dieser Stadt befand. Weil Jessie vom Matsch erzählt hatte, tippte ich auf Frühjahr, also noch mindestens ein halbes Jahr vor Abschluss des Dayton-Abkommens.
Jedenfalls waren alle Tische auf der Terrasse leer, sagte sie, und auch auf der Straße war niemand. Nicht mal Autos. Wir setzten uns hin. Nach ein paar Minuten ist ein Mann aus dem Hotel gekommen, ungefähr so alt wie Herbert. Mit Hut und einer Proletensonnenbrille auf der Nase. Ray Ban.
Ich sagte ihr nicht, dass ich auch so eine irgendwo in der Schublade hatte, anscheinend war das eine Krankheit, die Männer in allen Teilen der Welt infizierte.
Die Tiger, sagte Jessie, sind sofort aufgesprungen und haben sich eine Faust vor die Brust geschlagen. Sogar Herbert hat sich erhoben, um den Mann zu begrüßen. Der Mann hat Hut und Brille nicht abgesetzt und sich dafür entschuldigt. Er sprach Deutsch. Herbert sagte: Mister Simatovic, ich möchte als Erstes klarstellen, dass wir hier außerhalb aller politischen Kontexte zusammenkommen. Der Mann antwortete: Angenehm, sagen Sie doch Franki zu mir.
Es wurde schwierig für mich, verdammt schwierig, mir nichts anmerken zu lassen. Auf dem Tisch befand sich nichts mehr, womit ich mich beschäftigen konnte, außer dem Tomatensalat, aber den brauchte Jessie, sie ordnete Basilikumblätter zu einem kranzförmigen Muster. Ich hätte alles gegeben, um für eine Sekunde in ihren Kopf hineinsehen zu können, um herauszufinden, inwieweit sie das, was sie da erzählte, selbst begriff. Ob sie sich absichtlich oder wenigstens halb bewusst einer besonderen Fähigkeit bediente, die Ereignisse ohne jedes Hinterfragen, ohne Interpretation im Gedächtnis zu behalten und wiederzugeben, abgetrennt von Informationen, die selbst sie, trotz aller Abgeschnittenheit, über Radio, Zeitung oder Fernsehen in irgendeiner Weise mitbekommen haben musste. Mit Sicherheit wusste ich nur, dass ich mir nichts anmerken lassen durfte, wenn ich wollte, dass sie weitersprach. Es galt, ruhig sitzen zu bleiben, auf keinen Fall den Salat vom Tisch zu fegen und zu brüllen: Jessie, du hast Franko Simatovic gesehen, den Mann, von dem auf der ganzen Welt nicht ein einziges Photo existiert und für dessen Beschreibung man in Den Haag ein Vermögen zahlen würde.
Franki begrüßte auch Ross, sagte sie. Zu mir hat er sich rübergebeugt, zwei Finger unter mein Kinn gelegt und gesagt, na meine Kleine, gefällt es dir bei uns. Ich wich ihm aus, und Ross sagte, Mister Franki, die Frau ist dreiundzwanzigeinhalb und nicht bescheuert. Franki hat sich sofort entschuldigt und gesagt, dass ich meine Sache gut machen würde. Ross war immer auf meiner Seite.
Ja, sagte ich, ich weiß.
Dann haben sie Aktenordner geöffnet und Landkarten auseinander gefaltet. Ich wusste, dass ich jetzt freihatte. Ich bin ein bisschen die Straße runtergegangen, zwei Tiger hinter mir her. Der Geruch war nicht besser als am Flughafen. An allen Häusern waren die Scheiben eingeschlagen und nirgendwo eine Menschenseele. Die Sonne kam raus, ich ging in eine Einfahrt, dahinter sah alles so grün aus. Die Tiger haben sich links und rechts vom Eingang aufgestellt und eine Show mit ihren Gewehren gemacht. Im Garten standen Bäume mit großen, hellgrünen Blättern und im Schatten darunter eine Hollywoodschaukel. Ich wollte mich reinsetzen, aber dann sah ich den großen Hund in der Schaukel liegen. Sein Körper war völlig verdreht. Die Zunge hing ihm aus dem Maul und er hatte keine Pfoten mehr, stattdessen stachen unten an seinen Beinen die weißen Knochen aus dem Fell. Eine Menge bunter Schmetterlinge saß überall auf seinem Körper.
Sie fing wieder an, sich an den Haaren zu reißen, ich hielt sie nicht davon ab, ich war nur froh, dass ich ihr am Abend zuvor die Fingernägel geschnitten hatte.
Hast du eine Ahnung, fragte sie, was mit seinen Pfoten passiert sein könnte?
Blitzschnell suchte ich nach einem Märchen oder einer Fabel, nach irgendeiner kleinen Phantasie, in die der pfotenlose tote Hund sich überführen ließ. Er hat sich die Hacken abgelaufen. Mir fiel nichts ein.
Ich denke, sagte ich vorsichtig, die Pfoten sind ihm abgeschnitten worden.
Ja, sagte Jessie, das denke ich auch. Ich bin dann sofort zum Hotel zurück. Von dem Hund habe ich den anderen nichts erzählt. Ich wollte sie nicht beunruhigen.
Es entstand eine
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