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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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hatte er Jessie sitzen lassen mit der Idee, für seinen Tod verantwortlich zu sein.
    Es ist gut, Jessie, sagte ich, hör auf. Wir machen jetzt was anderes.
    Sie wich meinen Händen aus. Ein Bein hatte sie um das andere geschlungen, und sie schwankte, als wäre sie auf einem Stengel befestigt.
    Vielleicht, sagte sie, haben sie in der Galerie schon einen Abdruck von ihm.
    Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Ich wusste auch nicht, wie nachfragen.
    Der Künstler im Hof, sagte sie, macht solche Sachen.
    Hic gaudet mors succurrere vitae, sagt Clara.
    Das muss Delirium sein, vielleicht ist mit dem Koks was nicht in Ordnung, obwohl ich selbst mich eigentlich wunderbar fühle, jedenfalls gemessen an den Umständen. Clara sitzt unverändert, nur durch mein Bein aufrecht gehalten, an der Wand des Hauseingangs und spricht mit geschlossenen Augen wie ein transzendentales Medium.
    Man kann doch Latein, sagt sie, in deinen Kreisen.
    Hier dient der Tod dem Lauf des Lebens, sage ich automatisch.
    So heißt die Statue, sagt Clara, die sie aus Shershah gemacht haben. Ich weiß schon, dass du sie damals nicht gefunden hast in der Galerie.
    Geh gucken, sagte Jessie, ob du ihn da siehst. Dann weißt du Bescheid.
    Hör auf, sagte ich.
    Sie hob einen Zeigefinger und stieß ihn sich ins rechte Nasenloch. Bevor ich ihr in den Arm fallen konnte, um den Finger herauszuziehen, lief das Blut schon um die Oberlippe herum und seitlich am Mund vorbei und wurde vom Grübchen in der Mitte des Kinns kanalisiert. Seit Wochen gab es eine Stelle in ihrer Nase, an der nur mit dem Fingernagel gekratzt werden musste, damit Blut austrat, und sie wusste das auszunutzen.
    Geh, sagte sie.
    Jetzt?, fragte ich.
    Sie antwortete nicht.
    Meinst du die Galerie am Opernring?
    Das war die Galerie, an deren Tür Shershah und ich vor zwölf Jahren ein paar Minuten hatten warten müssen, während sie drinnen mit dem Galeristen sprach. Erst kürzlich hatte sie mir dort im Schaufenster ihre Lieblingsbilder gezeigt, schreiend bunte Portraits von Frauen, lang und überschlank, die Köpfe anmutig und bescheiden gesenkt, mit Gesichtern, die in fataler Ähnlichkeit Ameisen glichen. Die Bilder hießen »Uncommon Grounds«, »Fu liebt Fula« oder »Kings and Planets«. Ich hatte die ganze Zeit vor, ihr eins zu kaufen, falls sie mal Geburtstag hatte.
    Das ist nicht weit, sagte ich, du wartest hier.
    Ich komme mit, sagte sie.
    Steh auf zwei Beinen, sagte ich, wisch dir das Gesicht ab.
    Noch einmal stieß sie sich den Zeigefinger in die Nase.
    Schon gut, schon gut, sagte ich, hör zu.
    Ich schubste sie in den unbeleuchteten Eingang einer Passage, fand ein frisches Taschentuch, drehte einen Zipfel zu einem Röllchen und schob ihn ihr ins Nasenloch. Ihr rechtes Auge stand voller Wasser. Salzwasser. Ich musste an die strohdummen Goldfische denken. Das Blaue in Jessies Augen sah eigentlich auch aus wie ein Fisch, der mit dem Bauch nach oben schwimmt.
    Du kannst nicht mit, sagte ich, du sagst doch selber, dass sie dich suchen. Weißt du, was du machst?
    Sie schüttelte den Kopf.
    Du hüpfst hier immer auf der Stelle, sagte ich, damit sich die Welt unter dir hindurchdrehen kann. Während ich mal kurz weg bin, dreht sie sich ein ganzes Stück, und du bist schon fast zu Hause, wenn ich dich einhole. Verstehst du das?
    Sie nickte. Das Taschentuch hing ihr aus der Nase und sah aus wie der ausgerissene Flügel einer weißen Taube. Wenn sie nickte, war es, als winkte sie mir damit zu.
    Also los, sagte ich.
    Sie begann zu hüpfen. Dazu benutzte sie beide Beine, ihr Körper entspannte sich. Das Taschentuch wippte hoch und runter und schlug ihr auf die Backe. Wenn sie jemand so gefunden hätte, wäre sie weggeschlossen worden. Für immer. Ich rannte los.
    Und, fragt Clara.
    Sie machten gerade zu, sage ich. Der Galerist war noch derselbe, den ich zwölf Jahre vorher durchs Fenster gesehen hatte. Natürlich erkannte er mich nicht. Und dort war überhaupt nichts, was mich auch nur im Entferntesten an Shershah erinnert hätte.
    Ich weiß, sagt Clara. Der Galerist hat mir erzählt, dass sie ihn erst Anfang achtundneunzig reingekriegt haben.
    Du warst dort, frage ich.
    Klar, sagt sie, du doch auch, damals. Ich hab Shershah gesehen, ganz durchsichtig. Er ist wirklich ein außergewöhnlich schöner Mann gewesen.
    Wie bist du darauf gekommen, frage ich.
    Ach komm, sagt sie, die Galerie war doch auf dem Bari-Band.
    Und wo warst du noch überall, frage ich.
    Frag lieber, sagt sie, wo ich noch überall hingehen

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