Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Tour nicht ganz ungefährlich ist. Hinter dem Betonrohr erstreckt sich ein weiterer Hang, der mit einer dicken Matte aus Kudzu bedeckt ist. Ich habe Väter in den Vierzigern gesehen, die zwanzig oder dreißig Mal die Hügel hinaufklettern und einen zerschrammten Waschmaschinenkarton hinter sich herschleppen, auf dem ein, zwei Kleinkinder hocken und sich festklammern, als wären sie Prinzen auf einem fliegenden Teppich. Es ist ein Wunder, dass die Hotelbesitzer das Ritual in unserem prozesssüchtigen Zeitalter überhaupt zulassen.
Ich habe die ersten dreißig Minuten damit verbracht, die Menge nach Daniel Kelly abzusuchen, ebenso nach Anzeichen dafür, dass mir jemand folgt. Mehrere Male hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, aber wann immer ich mich umdrehte, konnte ich nichts Verdächtiges entdecken. Vor zehn Minuten habe ich Paul Labry – der nicht ahnte, dass ihm diese Ehre zuerkannt werden sollte – einen Bürgerrechtsorden verliehen. Ihm standen Tränen in den Augen, als er die Metallplakette entgegennahm, doch ich war gar nicht richtig bei der Sache, denn fünf Minuten vor meiner Rede hatte mein Vater mich über Kellys Star Trek angerufen und mir mitgeteilt, dass Jewel Washington, die Leichenbeschauerin, im Ramada Inn sei und mir etwas Wichtiges übergeben wolle. Ich erspähte Jewel kurz nach der Rede: Sie servierte Grillfleisch unter einer Zeltplane, ließ sich jedoch nicht anmerken, dass sie mich gesehen hatte. Deshalb wartete ich ab, bis sie es für angeraten hielt, sich mir zu nähern.
Caitlin schlendert in der Menge umher für den Fall, dass Jewel sie bei unserem Informationsaustausch als Hindernis betrachtet. Sie hat sich meinen Rucksack, in dem sich mein Satellitentelefon und meine Pistole befinden, über die Schulter gelegt. Es ist uns gut gelungen, die Rolle eines wieder versöhnten Liebespaars zu spielen, und ich kann nur hoffen, dass Libby Jensen heute nicht hier ist. Normalerweise wäre sie der Situation gewachsen, doch da ihr Sohn im Gefängnis sitzt, könnte sie verstört genug sein, eine Szene zu machen.
»Herr Bürgermeister«, sagt jemand mit nervöser Stimme hinter mir.
Ich schaue mich um und blicke in die kornblumenblauen Augen eines Mädchens von ungefähr zwanzig Jahren. Sie hat mausbraunes Haar und ein rundes Gesicht, ist aber recht hübsch – ein Hillbilly-Mädchen, das bald ihr unschuldiges Aussehen verlieren wird, zusammen mit dem Teint der Jugend. Sie ist entweder sehr groß, oder sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen, denn sie blickt mir fast direkt in die Augen.
»Hallo«, sage ich. »Gefällt Ihnen das Festival?«
Das Mädchen lächelt, doch ihre Augen sind voller Verwirrung, wenn nicht gar Furcht. Irgendetwas an ihr kommt mir vertraut vor. Bevor ich herausfinden kann, was es ist, schiebt sie mir etwas in die Hosentasche. Ich bin verblüfft, aber die Menge achtet gar nicht auf uns; die Leute beobachten zwei Ballons, die sich vom Fluss her nähern und zu dicht nebeneinander fliegen.
»Lesen Sie es erst, wenn Sie allein sind«, flüstert das Mädchen. »Es ist superwichtig.«
»Sind Sie …«
»Ich muss weiter«, unterbricht sie mich, wendet sich ab und taucht in der Menge unter. Zwei Sekunden lang sehe ich noch ihre Lederjacke, doch dann verschwindet sie in einem Gewirr aus Körpern.
»Wer war das?«, fragt Caitlin, die plötzlich an meiner Seite steht. Sie schaut hinter dem Mädchen her, das in der Masse untergetaucht ist, die sich zwischen uns und dem Hotelswimmingpool drängt.
»Weiß ich nicht.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat mir etwas in die Tasche gesteckt, einen Zettel. Ich soll ihn für mich allein lesen. Jewel Washington muss das Mädchen herübergeschickt haben. Wahrscheinlich wird Jewel beobachtet.«
»Oder du.«
»Ja.«
Caitlin nimmt meine Hand. »Lass uns von hier verschwinden.«
Ich blicke mich auf dem Gelände des Hotels um. Wenn man kein Zimmer gemietet hat, gibt es keine Privatsphäre. »Wir sollten so lange hierbleiben, bis wir sicher sind, dass ich die Nachricht von Jewel habe.«
»Wie wär’s mit Grillfleisch, Herr Bürgermeister?«
Jewel Washingtons schwitzendes braunes Gesicht erscheint so plötzlich vor mir, dass ich gar nicht weiß, woher sie auf einmal gekommen ist. Sie drückt mir einen Chinet-Teller mit würzig riechendem Schweinefleisch in die Hand. Bevor sie ihn loslässt, kneift sie mich in den Handrücken und rückt den Teller zurecht, sodass ich etwas Hartes ertaste, das an die Unterseite geklebt ist: ein kleines
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