Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
lassen?«
»Der Junge hieß Patrick McQueen.«
Kelly lächelt, doch Caitlin macht ein verwirrtes Gesicht. Manchmal löst ein Altersunterschied von zehn Jahren Probleme aus. »Gesprengte Ketten«, helfe ich Caitlin auf die Sprünge. »In dem Film versucht Steve McQueen, mit einem Motorrad aus einem Kriegsgefangenenlager der Nazis auszubrechen und blieb am Ende im Stacheldraht hängen.«
»Oh. Ich verstehe.«
»Ich hatte Patricks Grab nicht in Erwägung gezogen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Tim in einem so verzweifelten Augenblick an ihn dachte. Er hatte wegen des Unfalls ein Jahr im Gefängnis verbracht. Aber ich hätte klüger sein sollen. Wahrscheinlich ging ihm Patrick seit jenem Abend nicht einen Tag aus dem Sinn. Besonders in letzter Zeit. Ich glaube, er wollte das, was er getan hatte, irgendwie wettmachen.«
Caitlin schüttelt traurig den Kopf.
»Aber was bedeutet ›Hundemeute‹?«, fragt Kelly. »Welche Rolle spielt das Wort bei dieser Sache?«
»Tim und ich sind als Kinder manchmal mit dem Fahrrad auf den Friedhof gefahren. Einmal wurden wir dort von einer Meute wilder Hunde gejagt. Ich bin mir des Zusammenhangs nicht sicher, aber ich glaube, ich kenne ihn. In zwei Minuten werden wir es genau wissen. Wenn du den flachen Teil dieser Straße erreichst, siehst du links den Fluss. Bieg am Haupttor ab.«
Während Kelly meinen Anweisungen folgt, berührt Caitlin mich an der Schulter. »Kannst du dich wirklich an keine Einzelheiten über das Mädchen erinnern, das dir den Zettel gegeben hat? Irgendetwas muss doch das Gefühl der Vertrautheit ausgelöst haben.«
Ich versuche, mir das Gesicht des Mädchens in Erinnerung zu rufen, doch je stärker ich mich konzentriere, desto verschwommener wird es. »Ich kann sie nicht richtig einordnen, aber sie erinnerte mich an ein Mädchen, das mich irgendwo jenseits des Flusses mal bedient hat. Vielleicht in einem Laden oder in einem Restaurant in Vidalia. Aber ich könnte mich irren.«
»Denk weiter darüber nach. Vielleicht fällt es dir noch ein.«
Ich durchforsche mein Gedächtnis, suche nach irgendeinem Zusammenhang mit dem Gesicht des Mädchens, doch als wir die Cemetery Street zum Hügel hinauffahren, steigt eine ganz andere Erinnerung in mir auf. Im Sommer nach der sechsten Klasse übernachtete eine Gruppe von uns bei einem Freund, der in der Innenstadt wohnte. Die meisten meiner Schulkameraden wohnten in den Vororten, aber ein paar lebten noch in alten viktorianischen Gebäuden mit schmiedeeisernen Zäunen davor und engen Gassen dahinter. Wir fuhren mit unseren Liegerädern durchs Zentrum und taten so, als wären wir Evel Knievel, und abends rasten wir durch die Straßen, wobei wir laut johlten, um die Polizei auf uns aufmerksam zu machen und um von ihr gejagt zu werden.
Irgendwann schlug Davy Cass vor, auf dem Friedhofsgelände herumzufahren, doch es kostete uns große Überwindung. Teils war es der Gedanke an den verlassenen Friedhof, der uns erschreckte, teils war es das Wissen, dass er an der Nordseite der Stadt lag, in bedenklicher Nähe zu den Schwarzenvierteln. Damals hätte es kein Schwarzer riskiert, ein böses Wort zu einem weißen Kind zu sagen, aber das wussten wir nicht. Wir dachten vielmehr an Jim Clay, der in einem Schuppen auf dem Grundstück der Fentons hauste und Steinsalz aus einer Schrotflinte auf jeden abfeuerte, der seiner Unterkunft zu nahe kam. Und Nook Wilson neben der Tankstelle hatte seine Frau mit einem Schlachtermesser umgebracht und starrte uns manchmal an, als hätte er das Gleiche mit uns vor. Solche Männer fielen mir ein, wenn wir auf unseren Radfahrten nach Einbruch der Dunkelheit an den Rand der Nordseite gelangten. Vor allem aber fürchteten wir das Unbekannte.
Unsere ersten dreißig Minuten auf dem Friedhof verliefen euphorisch. Wie die Superhelden, die wir anbeteten, preschten wir über die schmalen Wege zwischen den Mausoleen, ohne die Hände zu benutzen und mit geschlossenen Augen, um herauszufinden, wer es am längsten konnte, ohne zu stürzen. Ich fuhr vom Haupttor zum Catholic Hill, ohne die Lenkstange auch nur einmal zu berühren. Dabei streckte ich die Arme aus wie Flügel (und warf nur ein, zwei verstohlene Blicke auf den Weg). Aber der Zustand der Begeisterung endete mit einem Knurren. Ein Bellen hätte uns nicht eingeschüchtert, denn die meisten von uns besaßen Hunde. Doch als Davy plötzlich schliddernd bremste, prallten wir anderen von hinten gegen ihn, und dann sahen wir, was ihn gestoppt
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