Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
aufzuplatzen schien. Sie zog ihr vor Schmerz pochendes Bein hinter sich her. Mittlerweile war sie wieder auf den Deich geklettert und hatte herausgefunden, wo sie war und wohin sie sich wenden musste. Sie befand sich auf der Deer Park Road, an der es meilenweit nur zwei oder drei Farmen gab, doch sie wusste von einer Kirche unweit der Baumwollfelder. Durstig, wie sie war, leckte sie sich den Schweiß von den Armen. Louisiana war nicht mit den kargen Hügeln in der Gegend von Las Vegas zu vergleichen; in der Trockenheit dort konnte man kaum sehen, wie der Schweiß aus der Haut drang. Hier dagegen fand man beinahe genauso viel Flüssigkeit in der Luft vor wie im Körper. Der Schweiß sammelte sich in kleinen Tropfen auf der Haut, so wie Wasser auf dem Lack eines Autos, das gerade gewachst worden war.
Bei ihrem letzten Aufstieg auf den Deich hatte Linda dann endlich die Kirche gesehen. In ihrer Vorstellung war das Gebäude weiß und sauber und stand in einem grünen Meer aus Sojabohnen, doch in Wirklichkeit lag es neben einem leeren Baumwollfeld wie eine übergroße Kiste, die jemand nachlässig von einem Lastwagen geworfen hatte. Das helle Aluminiumdach, an das Linda sich erinnerte, war ein Mosaik aus Rost und Grundierung, und der Turm sah aus wie eine Hundehütte, die jemand auf das Dach gedrückt hatte. Trotzdem – und obwohl das Kruzifix oben an der Wand einer zerbrochenen Fernsehantenne glich – hatte Linda nur an ihre Erlösung denken können. Pastor Simpson war allein und ging mit zwei Kästen unter den Armen vom hinteren Schuppen zum Hauptgebäude.
Linda weinte vor Freude.
Sie hatte einst zum Oneness-Zweig dieser Kirche gehört. Die Oneness-Mitglieder glaubten nicht an die Dreifaltigkeit Gottes; vor allem hassten sie die Scheinheiligkeit, die sich in ihrer Hauptkirche breitgemacht hatte. Als Linda in Las Vegas arbeitete, hatte Pastor Simpson seine Gruppe von der Oneness abgespalten und die sogenannte Wholeness Church gegründet. Sie war nicht offiziell anerkannt, umfasste aber eine kleine Gemeinde von vierzig oder fünfzig kompromisslosen Gläubigen. Diese hatten sich zusammengetan, um die alte Kirche am Fluss zu renovieren. Linda hatte davon gehört, als sie in die Stadt zurückkehrte und später auf dem Schiff arbeitete.
Nun hinkte sie vom Deich hinunter. Sie wusste nicht, ob Pastor Simpson mit den Oneness-Mitgliedern Streit hatte, und es war ihr auch gleichgültig. Sie wusste nur, dass Simpson seit Jahren ein guter Pfarrer war und versuchte, anderen Menschen zu helfen, besonders den Armen. Einmal hatte es Getuschel über ihn und zwei junge Mädchen der Gemeinde gegeben, aber Linda selbst konnte sich nicht über ihn beklagen.
Pfarrer Simpson hatte Linda fast augenblicklich erkannt, hatte sie in die Kirche geführt und ihre Wunden mit Wasser aus dem Spülbecken im einzigen Badezimmer gewaschen. Natürlich hatte sie ihm nicht die Wahrheit gesagt – nicht etwa, weil sie ihm nicht traute, sondern weil sie fürchtete, ihn oder seinen Anhängern Schaden zuzufügen. Mit seinem silbernen Haar, der roten Haut und den gütigen Augen hatte Simpson eine halbe Stunde lang dagesessen, während Linda ihm eine Lüge auftischte: Auf dem Glücksspielschiff habe sie einen Mann kennengelernt, einen ehemaligen Sträfling, der sie fast zu Tode geprügelt habe und sie umbringen werde, sollte er sie finden. Nein, sie könne nicht zur Polizei gehen, da der Mann auf beiden Seiten des Flusses Freunde unter den Polizisten habe. Pastor Simpson hatte den Kopf geschüttelt und versprochen, ihr nach Kräften zu helfen und sie aus der Stadt hinauszuschaffen.
Bisher war er seinem Wort treu geblieben. Nachdem Linda den langen Brief an Bürgermeister Cage geschrieben hatte, war eines der Mädchen aus Simpsons Gemeinde, sie hieß Darla, auf sein Geheiß aus der Stadt zu ihr gekommen, um das Schreiben abzuholen. Darla hatte versprochen, den Brief zu überbringen, ohne dass der Bürgermeister erfuhr, wo sie alle sich aufhielten; er sollte nicht einmal über die Identität der Botin aufgeklärt werden.
Linda wünscht sich, die Zeit würde schneller vergehen. Sie wird bald aufbrechen müssen, weil eine Abendandacht gehalten wird. Der Pastor hat Linda aufgefordert, sich vor dem Eintreffen des ersten Autos im Schuppen zu verstecken. Sie hat selten so große Angst gehabt wie vor dieser nur zwanzig Meter langen Strecke, aber sie wird die Entfernung irgendwie zurücklegen. Denn nach dem Gottesdienst wird der Neffe des Pastors sie nach Shreveport
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