Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
verabschieden und zu ihren Frauen und Kindern zurückfliegen. Andere Ortschaften und Städte werden die Nutznießer ihrer Energie und Intelligenz sein; andere Schulen werden die Früchte ihrer Arbeit ernten. Sie werden stets wehmütig über Natchez sprechen, und viele könnten sich hier zur Ruhe setzen, wenn ihre Kinder die Universität besuchen, aber das ist auch schon alles. Das Gleiche gilt für die meisten jungen Schwarzen, die die Highschool von Natchez absolviert haben.
Und nun frage ich mich mit einem Gefühl der Leere, das an Verzweiflung grenzt: Was tue ich hier?
Was bedeutet es eigentlich, eine Stadt zu »retten«?
Amerikanische Städte wachsen und schrumpfen seit Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Der Gedanke, dass ein Ort, der seit fast dreihundert Jahren überlebt hat, ausgerechnet mich für seine Rettung benötigt, ist selbstherrlich. Natchez wird immer in der einen oder anderen Gestalt hier sein. Es ist hoch gelegen, gut bewässert und fruchtbar und hat ein mildes Klima, das den Anbau von Pflanzen begünstigt. Sogar 1927, als der Mississippi zu einer erschreckenden Breite von siebzig Meilen anschwoll, stand der Ort hoch und trocken über dem, was im Mississippi-Tal dem Tag des Jüngsten Gerichts am nächsten kam. In meinem messianischen Eifer, den für mich besten Teil der Vergangenheit wiederherzustellen, habe ich schlicht die Tatsache aus den Augen verloren, dass Penn Cage ungeachtet all seiner Bemühungen nicht mehr als eine Fußnote in der langen Geschichte dieser einst großen Flussstadt sein wird.
Während die Messe ihren Fortgang nimmt und Pater Mullen seine Bemerkungen über den Leib und das Blut Christi herunterleiert, wenden meine Gedanken sich meinen eigenen Angehörigen zu. In den vergangenen zwei Jahren habe ich versucht, mir nicht den Kopf über die Kosten meines politischen Kreuzzugs zu zerbrechen, aber der Preis war verdammt hoch. Schon zu Anfang verlor ich Caitlin, weil sie meine Vision nicht teilte. Ich habe Annie der reichen kulturellen Erfahrung beraubt, die sie in einer größeren Stadt hätte machen können. Außerdem habe ich meine Schriftstellerkarriere unterbrochen und eine absurd hohe Summe für das Gehalt eines Staatsdieners aufgegeben. Ironischerweise haben meine Handlungen manche Probleme sogar verschärft. Indem ich meinen Charme auf Mrs. Pierce einwirken ließ, wurden die Tore für die Magnolia Queen und deren Verheerungen geöffnet. Tim Jessup liegt zehn Schritte von mir entfernt im Sarg, und trotz meines landesweiten Rufes als Ankläger habe ich seinen Mörder nicht zur Rechenschaft ziehen können.
Armselig. Das ist mein Urteil über die Penn-Cage-Administration der Stadt Natchez.
Während ich in jener ersten Nacht auf dem Friedhof auf Tim wartete, hatte ich mir überlegt, dass ich kaum je in irgendeinem Bereich gescheitert war und nie aufgegeben hatte. Wahre Südstaatler, so war mir eingetrichtert worden, kapitulieren nur dann, wenn sie nicht mehr kämpfen können. Aber der Südstaatenmythos der edlen Niederlage kann mich heute nicht trösten. Soll ich die Erziehung meines Kindes für den vergeblichen Versuch opfern, etwas zu »retten«, das sich bloß wandelt wie alles andere auch?
»Penn?«, flüstert Sam Jacobs und stupst mich an. »Wir sind an der Reihe.«
Die Abendmahlsfeier ist beendet, und Pater Mullen geht um Tims Sarg herum und verspritzt Weihwasser. Wie ein Schlafwandler stehe ich auf, nehme meinen Platz neben dem Sarg ein und helfe dabei, ihn durch den langen Gang zur Kirchentür zu rollen.
Ich erkenne fast jedes Gesicht auf den Bänken. Dutzende von Augen sind mit einem flehenden Blick auf mich gerichtet. Wonach fragen sie? Danach, wie Tim starb? Warum er sterben musste? Oder wollen sie etwas Profunderes wissen? In den verstörten Gesichtern steht die sehnsüchtige Frage, warum das Gefühl der Eintracht, das man bei Gelegenheiten wie dieser empfindet, nicht das ganze Jahr hindurch aufrechterhalten werden kann, wie es früher in dieser Stadt der Fall war. Aber die Antwort ist unter den Leuten selbst zu finden: Eine Stadt, die ihre Kinder nicht bis ins Erwachsenenalter unterstützen kann, wird nicht überleben – oder nur als Schatten ihrer selbst.
Als die Platzanweiser die Kirchentür öffnen, werde ich ein paar Sekunden lang vom Sonnenlicht geblendet. Zum Glück haben meine Pupillen sich daran gewöhnt, bevor wir den oberen Absatz der breiten Treppe erreichen. Dort heben wir den schweren Sarg von der Bahre und schleppen Tims Überreste die zehn
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