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Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl

Titel: Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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Ornat trägt, beginnt eine Predigt, bei der er sich durch Husten, Räuspern und das unterdrückte Weinen von Kleinkindern nicht stören lässt. Er hat einen Abschnitt aus dem Zweiten Brief des Paulus an Timotheus gewählt:
    »Denke daran, dass Jesus Christus, der Nachkomme Davids, von den Toten auferstanden ist. So lautet mein Evangelium, für das ich leide und sogar wie ein Verbrecher gefesselt bin. Das Wort Gottes aber ist von Fesseln frei. Dies alles erdulde ich um der Auserwählten willen, damit auch sie das Heil in Jesus Christus und die ewige Herrlichkeit erlangen. Wenn wir mit Jesus gestorben sind, werden wir auch mit ihm leben; wenn wir standhaft bleiben, werden wir mit ihm herrschen; wenn wir ihn verleugnen, wird er auch uns verleugnen.«
    Vielleicht hat mein privates Zeugnis über Tims Heldentum Pater Mullen veranlasst, mutig zu sein. Während der Priester weiter predigt, fällt mein Blick von seinem Gesicht auf die Köpfe und Schultern der Familie vor mir. Dr. Jessup und seine Frau sind so erschüttert wie alle Eltern, deren Kind ihnen in den Tod vorangeht. Julia, sprachlos und verstört, sitzt mit dem Baby auf dem Schoß neben ihnen. Sie hat heute keinen Blickkontakt zu mir hergestellt, obwohl wir häufig nur ein paar Schritte voneinander entfernt waren. Doch nun späht ihr Sohn über ihre Schulter und sieht mir in die Augen; seine eigenen sind von verwirrter Unschuld erfüllt. Ich suche im Gesicht des Jungen nach dem Vater, aber ich finde Tim sieben Meter näher am Altar, in dem glänzenden Bronzesarg, den ich bald zu dem Friedhof mittragen werde, auf dem wir uns in der Nacht vor seiner Ermordung trafen.
    In jener Nacht hat Tim mich aufgefordert, mir keine Vorwürfe zu machen, wenn ihm etwas zustieße. Doch heute scheint die Stille seines geschlossenen Sarges eine laute Anklage meiner Versäumnisse in sich zu bergen. Bin ich der Einzige, der sie hört? Wahrscheinlich wirke ich auf die hier Versammelten ganz normal oder sogar distanziert. Aber in meinem Innern ballt sich ein Sturm von Emotionen zusammen. Hier, in dieser mystischen Atmosphäre aus Kerzen und Weihrauch und Weihwasser, kehren andere Dinge, die Tim in jener Nacht äußerte, mit dem Gewicht von Sterbebett-Bezichtigungen zu mir zurück. Ich hätte den Menschen so viel versprochen, erinnerte er mich. Wie könne ich daran denken, mich aus einer Schlacht zurückzuziehen, der ich mich kaum angeschlossen hätte? Das stumme Echo seiner Worte zwingt mich, beschämt den Kopf zu senken, und die Scham wird von Zorn begleitet.
    Ich werfe einen verstohlenen Blick auf die gleichgültigen Gesichter hinter mir und frage mich, wie diese Leute reagieren würden, wenn ich als Bürgermeister zurückträte. Sie wissen weder etwas von Jonathan Sands’ Aktionen noch von der Gefahr, die die Magnolia Queen darstellt. Mein Rücktritt würde eine kurzlebige Woge aus Klatsch und Tratsch in der Stadt auslösen, und dann würde jemand anders das Amt übernehmen. Das Leben würde weitergehen wie zuvor, und viele auf diesen Kirchenbänken wären froh, würde ich von der Bildfläche verschwinden.
    Trotz seiner kühnen Lesung ist Pater Mullens Predigt vage und nur für die Gläubigen auf den Sitzbänken gedacht. Vielleicht hat er sie mit der Absicht geschrieben, Charlotte McQueen nicht zu verärgern. Während er spricht, spüre ich ein melancholisches Bedauern in der Menge, nicht jedoch den Schock, den Schmerz und den Kummer, den man üblicherweise auf der Beerdigung eines Mannes in den Vierzigern empfindet. Die meisten Anwesenden, zumal meine Altersgenossen, hatten immer erwartet, dass Tim Jessup früh sterben würde, wahrscheinlich lange vor diesem Zeitpunkt. Abgesehen von der noch offenen Frage, wie er umgekommen ist, hat die Zeremonie etwas Enttäuschendes. Die Menschen knien sich hin und setzen sich wieder und stehen auf, als würden sie von einem Zentralcomputer gesteuert, und ich verspüre das heftige Verlangen, in die Kanzel zu treten und das zu tun, was Dr. Jessup sich wahrscheinlich schon nicht mehr erhofft: die Wahrheit über Tims Leben und Tod zu verkünden.
    Aber was würde dadurch erreicht? Würden diese Menschen sich einmütig erheben, die Silver Street hinuntermarschieren, Sands und Quinn vom Schiff zerren und sie der Lynchjustiz aussetzen? Würden sie die Magnolia Queen an ihrem Ankerplatz verbrennen? Solche Dinge wären in Natchez nicht neu. Glücksspiele und Pferderennen sind hier immer populär gewesen, sowohl bei der Aristokratie auf dem Kliff als auch

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