Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
beim Pöbel. Aber im Jahre 1835, als die organisierten Spieler von Vicksburg nach Natchez Under-the-Hill flohen, nachdem mehrere von ihnen aufgehängt worden waren, führte der prominente hiesige Anwalt John Quitman eine Gruppe von Bürgern durch die Silver Street, trieb die Missetäter zusammen, ließ sie brutal auspeitschen und jagte sie aus der Stadt. Solche »Säuberungen« ereigneten sich in den alten Tagen regelmäßig, und manchmal wurden nicht nur Pferdepeitschen benutzt. Doch heute würde es zu keinem derartigen Aufruhr kommen. Die Lösung solcher Probleme wird nun der Polizei überlassen. Wenn die Behörden einem Fall nicht nachgehen, nehmen die Menschen an, dass es zu keinem wirklichen Verbrechen gekommen sei – zumindest nicht zu einer Tat, die ihnen Kopfzerbrechen bereiten müsste.
Meine Beklommenheit ist unvermutet nach der gedämpften Freude, die mich draußen vor der Kathedrale erfüllt hatte. Denn meine alten Klassenkameraden hatten ihre Bewunderung für meine Arbeit als Bürgermeister zum Ausdruck gebracht. Alle betonten, wie sehr sie Natchez vermissen und wie gerne sie zurückkehren würden. Ich habe nie an ihrer Aufrichtigkeit gezweifelt – jedenfalls nicht in ihren nostalgischen Augenblicken –, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass praktisch niemand heimgekehrt ist. Die meisten sind gar nicht in der Lage dazu, denn als erfolgreiche und ehrgeizige Mittelständler können sie sich ihren Lebensunterhalt nicht in einer Stadt ohne florierende Wirtschaft verdienen. Sie haben anderswo Familien gegründet, zumeist in den Vororten der Großstädte. Bei Kurzurlauben in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist ihnen aufgefallen, dass Natchez seit den idyllischen Tagen, an die sie sich erinnern, einen Niedergang erlebt hat, und sie äußern häufig den Wunsch, zur Rettung der Stadt beizutragen. Doch dieses Verlangen lässt nach einiger Zeit nach, und nur wenige machen sich die Mühe, jährlich Schecks an ihre alte Schule zu schicken oder sich gar danach zu erkundigen, was sie für die Stadt tun können. Deswegen mag ich sie nicht verurteilen, denn vor meiner Heimkehr empfand ich bei meinen seltenen Besuchen die gleichen sentimentalen Gefühle für Natchez.
Pater Mullen schickt sich an, das Abendmahl zu erteilen. Während Kirchendiener die Katholiken durch die äußeren Gänge begleiten, überlege ich mir die Worte meiner alten Schulkameraden außerhalb der Kathedrale. Die Orgel übertönt das leise Scharren der Füße, doch als die Stimme des Kantors einsetzt, ignoriere ich sämtliche Geräusche und konzentriere meine Erinnerung auf die Stimmen, die ich auf den Kathedralenstufen gehört habe. Endlich erkenne ich ihren unvertrauten Tonfall. Es war die Klangfarbe, die man benutzt, wenn man mit einem Märtyrer spricht – oder einem Dummkopf. Obwohl die Männer und Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, es nicht aussprechen, sind sie erstaunt, dass ich bereit war, die Kosten für meine Heimkehr zu zahlen, um die Dinge zu ändern. In erster Linie habe ich die Erziehung meines Kindes geopfert – nicht weil wir ein rassistisches Schulsystem hätten, sondern weil die erstklassige Ausbildung, die ich in der St. Stephen’s genoss, nicht mehr zu haben ist, nicht einmal in der St. Stephen’s.
Das Einzige, was die gegenwärtige Krise hätte verhindern können, war Voraussicht in den Jahren des Aufschwungs während meiner Kindheit. Wenn die Verantwortlichen damals darauf hingearbeitet hätten, die örtliche Wirtschaft von der Ölproduktion auf neue Bereiche umzustellen, wäre Natchez heute eine ganz andere Stadt. Man hat politische und wirtschaftliche Gelegenheiten verstreichen lassen, die sich vielleicht nie wieder bieten werden. Aber da mir eine Zeitmaschine fehlt, brauche ich die Menschen, die zu diesem Begräbnis nach Natchez gekommen sind, wenn ich die Stadt retten will. Natchez ist darauf angewiesen, dass jene Menschen, die während der Blütezeit der Stadt von ihr profitierten, sich nun erkenntlich zeigen. Natchez braucht ihre Intelligenz, ihre Energie und ihren Wunsch, die Stadt im Einklang mit ihren Träumen umzugestalten: in einen Ort, wo ihre Kinder die gleichen schönen Jahre erleben dürfen wie sie selbst und wohin sie später als Erwachsene zurückkehren können, um hier mit ihrer Familie zu leben.
Aber das ist ein Hirngespinst. Daran ließen die Gespräche, die ich vor einer halben Stunde geführt habe, keinen Zweifel. Morgen werden sich meine alten Klassenkameraden von ihren bejahrten Eltern
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