Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
hier?«
Sie zieht die Tür auf, sodass ihr blau-weißer Pullover und ihre vom Schlaf oder Lesen roten Augen sichtbar werden. »Ja, hier auch. Ich hatte bloß ein bisschen Angst, weil ich gehört habe, wie das Auto anhielt, aber dann sind Sie nicht reingekommen …«
Ich lächle beruhigend und gehe ins Haus. Dabei halte ich die Akte in meinem Hemd mit der linken Hand fest, während ich mit der rechten nach meiner Brieftasche taste. Da ich keine Ahnung habe, wie lange ich fort gewesen bin, ziehe ich zwei Zwanziger und einen Zehner heraus und entlasse Carla mit einem Winken.
»Annie hat ihre Hausaufgaben schon gemacht«, sagt sie und schwingt sich den Gurt eines schweren Rucksacks über die schmale Schulter. »Das Referat ist fertig.«
»Ist es gut geworden?«
»Soll ich ehrlich sein?« Carla lacht. »Das Mädchen kennt mehr Worte als ich.«
»Manchmal habe ich das gleiche Gefühl. Vielen Dank noch mal. Wie ist es mit dem Wochenende?«
Carlas Lächeln verschwindet. »Ähm … vielleicht irgendwann spät am Abend, wenn Sie mich brauchen. Aber die meiste Zeit werde ich bei dem Ballonrennen sein. In diesem Jahr gibt’s ein paar geile Bands.«
»Okay. Wenn du Zeit übrig hast, zahle ich dir einen Zuschlag. Dieses Wochenende wird wahnsinnig für mich.«
Sie lächelt auf eine Art, die mir nicht viel Hoffnung macht.
Nachdem ich die Tür hinter Carla geschlossen habe, gieße ich mir ein großes Glas Eistee aus dem Krug im Kühlschrank ein, nehme es mit zu dem ledernen Ohrensessel in meiner Bibliothek und lege die Akte geöffnet auf die Ottomane.
Die Golden Parachute Gaming Corporation pries sich in der Casinobranche als Gegenstück zu den Billiganbietern an. Das Unternehmen, dessen Kapital von einer kleinen, kämpferischen Partnergruppe unter Führung eines Staranwalts aus Los Angeles stammte, entwickelte die Strategie, in sekundäre Glücksspielmärkte vorzudringen und die Preise der Konkurrenz mit allen Mitteln zu unterbieten, wobei sie sogar ihren weniger begüterten Kunden einen individuellen Service zukommen ließ. Golden Parachute legt Parks und Sportplätze an, errichtet Gemeinschaftszentren und investiert in manchen Städten sogar in den Ausbau von Industrieparks. Kleinstadtpolitiker – und Natchez ist da keine Ausnahme – sind von so etwas hingerissen.
Vor allem aber hing der Erfolg von Golden Parachute beim Vorstoß in unseren Markt vom Timing ab. Das Unternehmen beantragte seine Glücksspiellizenz nach der katastrophalen Entscheidung von Toyota, ein neues Werk nicht in Natchez, sondern in Tupelo zu bauen. Die Bürger waren verbittert über die verlorenen Arbeitsplätze und bereit, im Trennungstrauma mit fast jedem anderen ins Bett zu steigen. Golden Parachute betrieb bereits erfolgreiche Casinos in Tunica County bei Memphis und in Vicksburg, das nur hundert Kilometer nördlich von Natchez liegt. Mit dieser Vorgeschichte hatte es keine Mühe, auf lokale Honoratioren einzuwirken, damit diese die staatliche Glücksspielkommission bewogen, Natchez eine vierte Lizenz zu gewähren.
Ein weiteres Casinoschiff in die Stadt zu holen war im Bürgermeisterwahlkampf keines meiner Ziele gewesen. (Übrigens ist keines der schwimmenden Casinos ein navigierbares Schiff; es handelt sich vielmehr um Kähne, die wie Raddampfer aus der Zeit von Mark Twain aussehen, doch in einem fünfmal größeren historischen Maßstab gebaut werden.) Mein Programm richtete sich auf die Reform des Erziehungswesens und die Wiederbelebung der örtlichen Industrie. Doch nach langem Zureden durch den Stadtrat erklärte ich mich einverstanden, beim Abschluss des Casinogeschäfts zu helfen. Meine Gründe waren vielschichtig: Erschöpfung nach dem Toyota-Missgeschick; ein Erlöserkomplex, der nach dem Schwund meiner anfänglichen Inspiration nur noch von Adrenalinstößen abhing; Desillusionierung über meine Kollegen in der Verwaltung und über viele der Bürger, denen ich dienen sollte. Außerdem ärgerte es mich, dass der Stadtrat häufig nach rassischen Gesichtspunkten geteilt war: vier schwarze und vier weiße Stimmen, wobei ich den Ausschlag gab. Ich handelte stets im Einklang mit meinem Gewissen, aber kaum jemand akzeptierte die Situation, und bei jeder Abstimmung verlor ich mehr Verbündete auf der einen oder der anderen Seite. Die Stadträte konnten sich lediglich auf Projekte einigen, die ihren Wahlkreisen Geld oder Arbeitsplätze bescherten. Daher fand Golden Parachute ein aufgeschlossenes Publikum für seine Präsentation vor.
Das
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