Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
mir die Erklärung, das Grab meiner Frau besucht zu haben, abgekauft hat. Er blickte dauernd über meine Schulter, als erwarte er, dass eine halb bekleidete Frau zwischen den Grabsteinen erscheinen werde. Natürlich könnte er auch nach Tim Jessup gesucht haben; deshalb richte ich den Blick immer wieder in den Innenspiegel. Ich würde gern herausfinden, wie groß das Interesse der Polizei an meinen Aktionen ist.
Im Unterschied zu den meisten Orten in Mississippi besitzt Natchez keinen Stadtplatz, der von einem Gerichtsgebäude oder einem steinernen Soldaten der Südstaatenkonföderation auf einer Säule beherrscht wird. Das Lebensblut dieser Stadt ist stets der Fluss gewesen, und die prächtigen alten Geschäftshäuser, die 1790 entworfen wurden, wenden sich nur zögernd von ihm ab, hin zu einstigen Plantagen, die nun zumeist in Wohnviertel unterteilt sind. Die City Hall steht der Pearl Street gegenüber und grenzt hinten an das Bezirksgericht. Die beiden Gebäude werden oft als Einheit betrachtet, da sie nur durch eine schmale Gasse voneinander getrennt sind.
Ich parke vor den cremefarbenen Mauern der City Hall und schreite unter hundertjährigen Eichen auf den Haupteingang zu. Das Gebäude wird gewöhnlich um 17 Uhr abgeschlossen, doch der Kronleuchter im Foyer ist so hell wie der Tanzsaal der Titanic , und mithilfe des Lichtes finde ich den erforderlichen Schlüssel an meinem Ring. Zwei Jahre vor meiner Wahl zum Bürgermeister verliehen mir die damaligen Räte einen Schlüssel zur Stadt. Dieses Zeichen der Anerkennung bedeutete zu jener Zeit nicht viel – es war eine Ehre, von der vielleicht ein Kind träumt, das sich einen Disneyfilm anschaut –, doch heute Nacht, während ich die City Hall mit dem nicht nur symbolischen Schlüssel öffne, verspüre ich das niederdrückende Gewicht meiner Verantwortung den Wählern gegenüber.
Oben in meinem Büro knie ich mich vor den Safe und öffne das Kombinationsschloss. Die wenigen heiklen Dokumente, mit denen ich als Bürgermeister zu tun habe, ruhen in diesem Safe, darunter meine Akte über die Golden Parachute Gaming Corporation, die in Los Angeles ansässige Firma, in deren Besitz die Magnolia Queen ist. Ich komme mir seltsam verstohlen vor, als ich die dicke Akte in mein Buttondown-Hemd schiebe, bevor ich die Treppe hinuntergehe und die Tür abschließe. Die Akte ist noch an meinen Bauch gedrückt, als ich mit dem Auto die zehn Blocks umrunde, die zwischen mir und meinem nur drei Querstraßen entfernten Haus an der Washington Street liegen. Dabei bin ich auf der Hut vor Streifenwagen.
Als ich in die Stadt zurückgekehrt war, hatte ich das zweifelhafte Glück, kurz vor dem Tod des Patriarchen einer etablierten Familie einzutreffen. Nach einem Jahrhundert der Vernachlässigung wurde der Familienwohnsitz zum Kauf angeboten. Ich erwarb ihn noch am gleichen Tag, was ich nie bedauert habe. Das elegante zweistöckige Wohnhaus aus roten Backsteinen ist im frühen Kolonialstil des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden und steht im Zentrum eines der schönsten Bereiche des Ortes. Stadthäuser der verschiedensten Stilrichtungen stehen an beiden Seiten der Straße wie makellos gekleidete Damen und Herren aus einer versunkenen Epoche, bevor sie der Episkopalkirche, dem Temple B’nai Israel, Glen Auburn – einer vierstöckigen Villa im Stil des französischen Second Empire – und Magnolia Hall weichen, einem neoklassischen Anwesen, das als Zentrale des einstmals einflussreichen hiesigen Gartenclubs dient. Die meisten Stadthäuser sind erst nach dem Bürgerkrieg entstanden und waren die Heime der Kaufleute, Anwälte und Ärzte, die in der viktorianischen Ära in Natchez gediehen.
Ich parke, steige aus meinem Auto und werde auf ein schwaches, doch stetiges Glühen aus dem ersten Stock im Haus gegenüber aufmerksam. Plötzlich habe ich Schmetterlinge im Bauch, bleibe stehen und versuche mich zu erinnern, ob ich dieses Licht in den vergangenen Wochen bemerkt habe. Die Frage ist nicht ohne Bedeutung, denn das Haus gehört immer noch Caitlin, obwohl sie es seit achtzehn Monaten kaum besucht hat, da sie den größten Teil ihrer Zeit in Charlotte, North Carolina, verbringt, wo die Zeitungskette von Caitlins Vater ihren Sitz hat. Aber das Haus ist weiterhin möbliert und wird nicht vermietet. Caitlin und ich trennten uns unter hinreichend guten Umständen, weshalb ich noch einen Schlüssel besitze – theoretisch für den Fall, damit ich die erforderlichen Experten heranziehen
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