Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Meter hinüber zur ersten Etage von Caitlins Haus. Ist sie dort? Oder ist sie unten in der Examiner -Redaktion, wo sie dem Nachtredakteur wegen des Layouts der morgigen Zeitung zusetzt? Der Gedanke lässt mich lächeln, doch dann wird mir klar, dass Caitlin genauso gut zum Tanzen in eine der Bars in der Main Street gegangen sein könnte. Oder hat sie einen aufgeblasenen neureichen Hinterwäldler, der eine Ballonrennen-Party abhält, zur Zielscheibe ihrer ironischen Begabung gemacht? Ich verspüre das Verlangen, hinunterzulaufen und mich zu überzeugen, ob in ihrer Garage ein Mietwagen steht. Haben die achtzehn Monate der Trennung mich zu einem Stalker werden lassen? Eines steht fest: Es wäre unerträglich, wenn ich das Licht in ihrer Wohnung anschmachte, um sie dann plötzlich mit einem anderen Kerl zu sehen.
Dann muss ich wieder an die Fotos denken, die Tim mir gezeigt hat. Ein zerfleischter Hund. Eine halb nackte Heranwachsende, die Bier serviert. Ein Mann mittleren Alters, der das junge Mädchen auf einem Dielenfußboden vögelt, während vier andere Männer trinken und zuschauen. Können in Sichtweite der Stadt, die ich so sehr liebe, kleine Mädchen wirklich vergewaltigt und Hunde abgeschlachtet werden? Ich habe die drei Fotos nur sekundenlang zu Gesicht bekommen, aber ich werde sie nie vergessen. Wenn ich die Augen schließe und sie vor mir sehe, schaudere ich noch immer. Und dieser Abscheu ist der Grund, weshalb ich Tim meine Hilfe versprochen habe.
Wenn solche Überlegungen mich am Einschlafen hindern, benutze ich einen Trick, den mir ein Rockmusiker aus den Sechzigerjahren beibrachte, nachdem ich ihn in Houston vor dem Gefängnis bewahrt hatte. Wann immer der Drogenentzug Krämpfe auslöste und die Dämonen den armen Kerl mit sich fortreißen wollten, stellte er sich ein jungfräuliches Eisfeld vor, weiß und strahlend rein und so entlegen, dass kein Fußabdruck je seine Oberfläche verunziert hat. Er konzentrierte sich auf diese Szene, bis er ein Teil von ihr zu sein glaubte, und manchmal trat dann Friede ein. Zu meinem Erstaunen war diese Methode auch bei mir hin und wieder erfolgreich. Aber heute Nacht kann ich die Dämonen damit nicht abwehren. Dunkle Gestalten bewegen sich unter dem Eis wie Raubfische in einem gewaltigen Meer, stets auf die Schatten der Beute an der weißen Oberfläche über ihnen lauernd. Ein Halbschatten von der Größe eines Kleinwagens hockt unter mir, und ich ergreife die Flucht. Obwohl ich auf dem Rücken im Bett liege, pocht das Herz in meiner Brust, und das Blut rauscht durch meine Adern. Weit vor mir sehe ich eine blaue Stelle im Eis. Ein Loch. Daneben steht Tim Jessup, ohne Hemd und blau vor Kälte. Während ich mich ihm mit knirschenden Schritten nähere, zieht er seine Hose aus und schaut in das Loch hinunter. Ich rufe ihm zu, dass er warten soll, aber er hört mich nicht. Er setzt sich hin, lässt die Beine ins Wasser baumeln und sinkt dann wie ein Junge, der langsam von einem Dach rutscht, in die blau-schwarze Öffnung. Ich will schreien, doch eine neue Vision hindert mich daran. Ein Wolf, der sich scharf vom Horizont abhebt, steht da und beobachtet mich. Sein Fell ist knochenweiß, und seine Augen glänzen vor verwirrender Intelligenz. Ich versuche anzuhalten, aber ich habe die Kontrolle verloren und gleite weiter. Als ich dann endlich zum Stehen komme, setzt sich der Wolf in Bewegung und trottet zielstrebig auf mich zu. Seine Augen durchbohren mich, und während ich versuche, rückwärtszulaufen, höre ich Tims hysterische Stimme: »Du weißt es nicht, Mann! Du weißt es nicht …«
6
J ulia sitzt am Küchentisch und betrachtet einen Gefrierbeutel, der mit gesprenkelten Tabletten und weißem Pulver gefüllt ist. Sie hat ihn vor einer Stunde gefunden, als die Toilettenspülung sie so sehr nervte, dass sie den Deckel des Wasserbehälters entfernt hat. Der Beutel lag in einer kleinen Tupperdose, die mit ein paar Bolzen beschwert war. Der Rand des Dosendeckels hinderte das Schwimmerventil daran, sich zu schließen. Tim war schon so lange clean, dass Julia in den ersten Momenten, nachdem sie die Dose aus dem Wasserbehälter gehoben hatte, völlig verwirrt war. Aber als sie den Deckel öffnete, schien ihr Universum zu implodieren, als würde es von einem Schwarzen Loch verschlungen.
Sie hatte den Beutel auf den Küchentisch gelegt und ihn einfach eine Zeitlang angestarrt, wobei sie vor Wut über Tims Vertrauensbruch bebte. Aber hauptsächlich verspürte sie Angst, denn
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