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Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl

Titel: Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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ihre Tochter sich entwickelt. Zwar glaube ich nicht, dass Sarah vom Himmel wohlwollend auf unsere Tochter herunterschaut, aber ich glaube, dass sie durch Annie weiterlebt – in ihrem Gesicht, ihrer Stimme, ihrer raschen Auffassung und sogar in ihrem Temperament.
    Ich biege auf den Highway 61 ab und versuche, mich auf die Angelegenheiten der Stadt zu konzentrieren. Wenn man einer Kleinstadt vorsteht, meint jeder Hinz und Kunz, dass deine Zeit ihm gehört – egal, wo du dich aufhältst und womit du gerade beschäftigt bist. Dem Anruf eines Großunternehmers kann der Besuch eines erbosten Rentners folgen, dessen Rosensträucher von den Ziegen seines Nachbarn gefressen werden. Wer sich seinen Humor bewahrt, kann solche Situationen gleichmütig hinnehmen, doch mir fällt es seit einiger Zeit schwer, den Humor nicht zu verlieren.
    Heute habe ich es weder mit Ziegen noch mit Rosensträuchern zu tun, sondern mit einem Millionär aus Minnesota, der den kühnen – möglicherweise wahnsinnigen – Plan hat, die Abfälle sämtlicher Städte am Mississippi und seinen Nebenflüssen aufzubereiten. Hans Necker beabsichtigt, alle Müll-, Plastik- und Papierabfälle an verschiedenen Sammelstellen zusammenpressen und die entstehenden Würfel mit Kähnen stromabwärts zu einer Recyclinganlage in Greenville, Natchez oder Baton Rouge befördern zu lassen – je nachdem, wo er sich letztlich mit seinem Werk ansiedelt. Eines steht fest: Katrina hat gerade dafür gesorgt, dass New Orleans nicht mehr in die engere Wahl kommt. Wir haben in Natchez drei mögliche Standorte, die alle nicht weit voneinander entfernt sind. Trotzdem hat Necker einen Hubschrauber gechartert, um sich nicht nur die Örtlichkeiten, sondern auch die Stadt und ihre Umgebung anzuschauen.
    Auf halbem Weg zum Flugplatz simst mir Paul Labry, einer der wenigen Stadträte, die ich als Freunde betrachte, dass Necker verspätet sei. Necker hat bereits mehr Zeit in Greenville verbracht als erwartet, und die Stadträte ziehen alle möglichen negativen Schlüsse daraus. Mich regt es nicht allzu sehr auf. Verglichen mit dem, was mir bevorsteht, wenn Tim Jessup Beweise für seine Anschuldigungen liefert, ist der Verlust einer Recyclinganlage ein Klacks.
    Mein Handy vibriert. Ich rechne mit einer weiteren Nachricht von Labry, doch es ist eine SMS von einer mir unbekannten Nummer. Nicht einmal die Ortsvorwahl ist mir vertraut. Als ich auf LESEN klicke, wird mir der Mund trocken.
    Überquere den rubikon. Bleib bei deinem telefon und bei nem Turm. Nicht antworten! Mrs. Haley.
    »Scheiße«, flüstere ich. Mrs. Haley war in der achten Klasse Tim Jessups und meine Lateinlehrerin gewesen. Überquere den Rubikon? Was zum Teufel denkt Tim sich bloß? Ich hatte angenommen, dass er wenigstens ein paar Tage abwarten würde, bevor er seinen Plan realisiert. Begreift er denn nicht, wie wichtig dieses Wochenende für die Stadt ist? »Scheiße«, wiederhole ich, denn ich kann die Vorstellung nicht verkraften, dass Jessup in diesem Moment vielleicht Verbrechen begeht, durch die er sich selbst und die Zukunft der Casinos in Mississippi gefährdet.
    »Tim, du verrückter Mistkerl«, murmele ich und will ihm eine Warnung simsen. Aber bevor ich auf SENDEN drücke, gewinnt Vorsicht die Oberhand über die Besorgnis, und ich stecke mir das Handy tief in die Tasche.
    Ich schließe mein Auto ab und gehe hinaus auf die Rollbahn, wo ein paar einmotorige Maschinen in aller Stille warten. Auf dem Flugplatz gibt es nicht viel zu sehen, denn Natchez hat seit den SiebzigerjaHren keinen kommerziellen Flugservice mehr. Die Brise der letzten Nacht ist am Morgen verebbt, und die Sonne funkelt weiß auf den Start- und Landebahnen. Ich halte am Nordhimmel Ausschau nach Hans Neckers Gulfstream IV. Die Windstille war günstig für den »Medienflug« des Ballonfestivals am heutigen Morgen, aber sie ist grässlich für einen Mann, der ein langärmeliges Buttondown-Hemd trägt, auch wenn es aus Makobaumwolle ist. Die Luftfeuchtigkeit in Süd-Mississippi könnte einen Wüstenbewohner ertrinken lassen, wenn er zu schnell atmet.
    Nachdem ich einen weiteren halben Liter Schweiß vergossen habe, entdecke ich flussaufwärts ein silbernes Glänzen am Himmel: Neckers Jet. Einen Augenblick später höre ich das Geräusch eines Hubschraubers von Süden her. Die Gulfstream beschreibt einen Kreis und nähert sich von Südost, bevor sie so anmutig landet wie die erste Ente des Winters auf einem im Morgengrauen stillen Teich. Der Jet

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