Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
haben, war in meiner Kindheit der wichtigste Veranstaltungsort für Festlichkeiten. Der weiße Pavillon auf der Spitze des Kliffs diente als Treffpunkt für Maler und Musiker und sogar Funkamateure, die sich hier einfanden, weil es meilenweit keine höher gelegene Stelle gibt. An den Stufen lasse ich Caitlin den Vortritt und betrachte die Linie ihrer Schultern, die sanfte Wölbung ihres Rückens. Mein Gott, wie ich sie vermisst habe. Sie geht zum Geländer und schaut auf den Nachthimmel über dem Fluss hinaus.
»Es riecht wie früher«, sagt sie.
»Gut oder schlecht?«
»Beides.«
Jenseits des Flusses bewegen sich Reihen von Scheinwerfern nach Osten und Westen auf dem Highway, der das Gelände der Hard-Shell-Baptisten von Louisiana durchzieht. Zehn, zwölf Meilen von hier wuchsen Jerry Lee Lewis und Jimmy Swaggart unter den flammenden Schatten Gottes und Satans auf, während um sie herum Farmpächter mühevoll Baumwolle anbauten und ihren Schmerz auf den Feldern in Gesang kleideten.
So nahe bin ich Caitlin seit Monaten nicht gewesen. Aus einer Schar von Frauen aus Mississippi sticht sie hervor wie eine europäische Touristin. In unserem feuchten, subtropischen Klima erhalten sich die rundwangigen Gesichter der Schönen gewöhnlich bis fünfunddreißig, wie in einer verlängerten Pubertät, doch wenn sie nachlässt, beginnt das sich hinziehende Rückzugsgefecht gegen das Alter, und die Schwerkraft beschert vielen das Aussehen verblühter Matronen, die sich als Ballköniginnen maskieren. Durch plastische Chirurgie werden die Masken letzten Endes nur noch erschreckender. Caitlins Gesicht dagegen besteht nur aus Flächen und Winkeln, es hat eine architektonische Exaktheit und wirkt fast männlich, wären da nicht die katzenartigen Augen, die in der Dunkelheit wie Smaragde funkeln. Jede ihrer Bewegungen wirkt zielstrebig, doch sie lässt sich nie treiben. Und nun wird mir klar, dass dieser Spaziergang nicht bloß ein Spaziergang ist.
»Was hat dich wieder zu uns geführt?«, frage ich leise.
Sie verschränkt die Arme, um sich vor dem Wind zu schützen, der das Kliff heraufweht. »Katrina.«
Diese Antwort reicht zwar aus, ist aber zu einfach. »Du schreibst über die Folgen?«
»Ich beobachte alles und versuche, es zu verarbeiten. Mir sind beunruhigende Dinge zu Ohren gekommen, was sich hier unten abgespielt hat.«
»Beunruhigende Dinge geschehen überall«, erwidere ich. »In Natchez, in Charlotte, wo auch immer. Wenn du wirklich ein Fenster in die Hölle finden willst, brauchst du von keinem Ort aus weit zu gehen. Genauso gut könntest du eine Story darüber schreiben, wie die weißen Baptistenkirchen schwarze Flüchtlinge unterbringen. Aber damit lassen sich nicht so viele Zeitungen verkaufen wie mit einem Artikel über weiße Cops, die auf schwarze Zivilisten schießen, nicht wahr?«
»Du hast immer darauf geachtet, dass ich nicht aus dem Rahmen falle, stimmt’s?«
»Und du bei mir.«
Sie wendet sich vom Geländer ab, und ihre grünen Augen spiegeln die Straßenlaternen hinter mir auf dem Broadway wider. Ein dröhnender Bassgeigen-Beat donnert von der Kneipe auf der anderen Straßenseite zu uns; dann schmettert Kalispell-Musik unterhalb des Kliffs einen misstönenden Kontrapunkt.
»Wow«, ruft Caitlin. »Auf den Schiffen muss es heute Abend wild zugehen.«
Plötzlich wird mir klar, dass ich ein paar friedliche Minuten lang nicht an Tim Jessup gedacht habe. »Ich muss zurück zu Annie.« Mein Bedürfnis, Caitlin so nahe zu sein, macht mir Angst. »Morgen habe ich einen langen Tag.«
»Ja. Ich habe gehört, dass du auf dem Morgenflug dabei bist«, sagt sie mit einem wissenden Lächeln. »Ist das wahr?«
»Leider komme ich nicht drum herum. Ich muss einem schwerreichen Mann, der hier vielleicht ein neues Werk bauen will, Honig um den Bart schmieren.«
»Auch davon habe ich gehört. Schaffst du das, Herr Bürgermeister?«
»Kein Kommentar.«
Sie lacht artig, doch ihre Augen sind umwölkt. »Ich kann deine Gedanken nicht mehr wie früher lesen.«
»Ich weiß, wie das ist.« Meine Furcht ist durch ein berauschendes Gefühl der Leichtigkeit verdrängt worden, als hätte ich zusammen mit Caitlins Worten einen Hauch Kokain in mich aufgenommen. Ein Lichtbogen durchfährt mich, als sie nach meiner Hand greift und mich die Stufen hinunterführt.
»Ist Annie bei deiner Mutter?«, fragt sie. Der Pfad am Kliff entlang füllt sich mit Menschen, die sich das Feuerwerk am anderen Flussufer in Videlia anschauen
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