Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
zu hören.«
Nun erst merke ich, dass sein vornehmer englischer Akzent zurückgekehrt ist. Der irische Unterschichtakzent hat sich aufgelöst wie ein Kondensstreifen.
Während ich hinter ihm herschaue, bleibt er stehen und ruft: »Oh, falls Sie sich Sorgen um die trauernde Witwe machen, können Sie beruhigt sein. Wenn ich wollte, dass sie von der Bildfläche verschwindet, hätte sie längst Zimmertemperatur. Genau wie das Kerlchen.«
Mein Gesicht muss etwas verraten haben, denn er fügt hinzu: »Sicher, ich habe jedes Wort Ihres Gesprächs mit ihr gehört. Ich weiß, dass sie mein Eigentum nicht hat. Also teilen Sie ihr mit, dass sie sich ausschlafen kann. Und wenn Sie die DVD vor dem Morgen finden, steuere ich auch ein paar Dollar zur Hinterbliebenenrente bei.« Er lächelt bei dem Gedanken und verabschiedet sich mit seinem Heimatakzent. »Eine wunderschöne Nacht auch.«
Damit schlendert Jonathan Sands die Washington Street hinunter, und der riesige Hund geht bei Fuß, als wäre er der Begleiter eines Königs. Einmal bleibt Sands stehen, um die glatten Stämme der Kreppmyrtenbäume im rosa Glühen der Straßenlaternen zu mustern, und auch der Hund hält an und setzt sich neben ihn. Dann gleitet ein langes schwarzes Auto geräuschlos heran, nimmt ihn und das Tier auf und rollt in Richtung Fluss davon.
Ich starre in die Schwärze, in der die Rücklichter verblasst sind, und merke, dass ich unkontrollierbar zittere. Ich bin kaum in der Lage, nach meinem Schlüssel zu greifen und ihn aus dem Schloss zu ziehen.
Drohungen sind mir nicht fremd. In meinem Leben bin ich gefährlichen Männern, darunter einigen Psychopathen, entgegengetreten. Manche hatten geschworen, sich wegen ihrer Verurteilung oder wegen der Hinrichtung von Verwandten an mir zu rächen. Einmal erschoss ich einen Mann, damit er meine Tochter nicht aus Rache umbringen konnte. Aber noch nie habe ich einen so lähmenden Schrecken verspürt wie in den Minuten, als ich der leidenschaftslosen Stimme von Jonathan Sands zuhörte.
O Gott, muss Tim gelitten haben, bevor er starb.
Mit bebenden Händen hole ich mein Handy hervor und rufe Julia Jessup an. Ich habe mich um drei Minuten verspätet, aber sie antwortet sofort. Sie hört sich an, als wäre sie kurz davor, zu hyperventilieren. Ich weiß nicht, ob Sands’ Versprechen, Tims Witwe in Ruhe zu lassen, viel wert ist, doch nun muss ich meine eigene Familie beschützen. Nachdem ich Julia geraten habe, bei Tims Eltern Zuflucht zu suchen, trage ich die Aktentasche ins Haus, schließe die Tür hinter mir ab und renne die Treppe hinauf zu Annies Tür. Im Schein des Nachtlämpchens sehe ich, dass sie unter der Decke an die größere Gestalt meiner Mutter geschmiegt ist. Erleichterung überschwemmt mich, wird aber rasch von Furcht verdrängt. Während ich meine schlafende Tochter betrachte, bildet sich eine beunruhigende Gewissheit aus dem Chaos meiner Gedanken heraus. Tim hatte recht, was »Mr. X« betrifft: Jonathan Sands hat nichts mit meinen bisherigen Gegnern gemeinsam. Ich habe fast ein Jahr mit dem Mann zu tun gehabt, ohne etwas von seinem wahren Charakter zu ahnen. Aber dies ist nicht die Zeit für Selbstvorwürfe oder für Zweifel. Sands mag sich eingeredet haben, dass ich mich nicht von denen unterscheide, die er bestochen oder durch Drohungen zur Kooperation gezwungen hat, doch in vierundzwanzig Stunden wird er es besser wissen. Allerdings kann ich erst handeln, wenn ich meine Tochter in Sicherheit gebracht habe.
Ich eile die Treppe hinunter, schließe Sands’ Aktentasche – die tatsächlich voller Bargeld ist – in den Safe in meinem Arbeitszimmer ein und hake im Geist die offensichtlichen Hindernisse ab: Das Haus wird beobachtet. Meine Telefone, ob Handy oder Festnetz, werden abgehört. Das Haus könnte verwanzt, sogar mit Videokameras versehen sein; schließlich wartete Sands bereits auf mich, als ich kam. Er könnte meine E-Mails, SMS -Nachrichten und jede andere Form digitaler Mitteilungen überprüfen. Also, welche Alternativen habe ich noch?
Manche Menschen werden durch Todesgefahr in lähmende Verwirrung versetzt. Mir dagegen verschafft sie – nach den ersten Minuten der Panik – Klarheit. Deshalb zögere ich nicht im Geringsten, als ich zum Küchentelefon greife und die private Telefonnummer meines Vaters wähle. Nach dreimaligem Klingeln meldet sich ein leicht angeschlagener Bariton: »Dr. Cage.«
»Dad, hier ist Penn.«
Aus drei Meilen Entfernung spüre ich, wie er in der
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