Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
sich die Haare kurz schneiden lassen. In ihrem dunklen Rock und dem Jackett sah sie aus wie eine Nachwuchsmanagerin. Sie hatte eine Idee und wollte meine Meinung dazu hören. Während sie sprach, spürte ich einen Wetterumschwung, nicht draußen, sondern in ihr.
Sie wollte eine Anlaufstelle für junge Mädchen auf der Straße aufbauen – mit einer Beratung über persönliche Sicherheitsmaßnahmen, Gesundheits- und Wohnungsfragen sowie Drogentherapien. Sie hatte ein paar bescheidene Ersparnisse und ein altes Haus in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross gemietet.
Dieses Drop-in-Zentrum sollte bloß der Anfang sein. Wenig später hatte sie die PSAM-Initiative gegründet. Ich war immer wieder überrascht, wer ihr alles als Ratgeber zur Verfügung stand – Richter, Anwälte, Journalisten, Sozialarbeiter und Gastronomen. Manchmal habe ich mich gefragt, wie viele von ihnen ehemalige Freier waren. Andererseits habe auch ich ihr geholfen … und das hatte nichts mit Sex zu tun.
Der Eingang liegt im Dunkeln. Die Balken glitzern vor Frost, und das kleine Licht über der Klingel flackert auf, als ich auf den Knopf drücke. Es muss schon nach Mitternacht sein, und ich höre den Summton im Flur widerhallen. Elisa ist nicht zu Hause.
Ich muss mich nur für ein paar Stunden irgendwo hinlegen. Einfach schlafen. Ich weiß, wo Elisa ihren Ersatzschlüssel aufbewahrt. Sie wird nichts dagegen haben. Ich kann meine Kleidung waschen und ihr am Morgen Frühstück machen. Dann werde ich ihr auch erklären, dass ich ihr Alibi doch brauche.
Ich halte den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger, als ich ihn ins Schloss schiebe. Zwei Mal umschließen. Ein neuer Schlüssel, ein anderes Schloss, und die Tür geht auf. Auf der Matte unter dem Briefschlitz türmt sich die Post. Elisa ist seit ein paar Tagen nicht mehr zu Hause gewesen.
Meine Schritte auf dem polierten Holzboden hallen im Haus wider. Mit den bestickten Kissen und indischen Teppichen wirkt das Wohnzimmer wie eine Boutique. Ein Licht des Anrufbeantworters blinkt. Das Band ist voll.
Ich sehe ihre Beine zuerst. Sie liegt auf dem elisabethanischen Sofa, die Knöchel mit braunem Klebeband gefesselt. Ihr Oberkörper ist nach hinten gebeugt, und über ihren Kopf ist eine schwarze Mülltüte gestülpt, die mit Klebeband an ihrem Hals befestigt ist. Die Hände sind unter ihrem Körper auf den Rücken gefesselt. Ihr Rock ist bis zu den Schenkeln hoch gerutscht, und ihre Strümpfe sind voller Laufmaschen und zerrissen.
Binnen eines Herzschlags erwacht der Arzt in mir und ich reiße ihr die Plastiktüte vom Kopf, fühle ihren Puls und lege mein Ohr an ihre Brust. Ihre Lippen sind blau, ihr Körper ist kalt und steif. Haare kleben an ihrer Stirn. Und ihre Augen sind offen und starren mich verwundert an.
Ich spüre eine stechende Kälte in der Brust, als würde sich eine Bohrmaschine durch mein Inneres fräsen. Ich sehe alles noch einmal vor mir: den Kampf und den Tod und wie sie sich
dagegen gewehrt hat. Wie viel Sauerstoff war in dem Sack? Maximal für zehn Minuten. Zehn Minuten, um zu kämpfen. Zehn Minuten, um zu sterben. Sie hat das Plastik an ihren Mund gesogen, als sie sich gewunden und gestrampelt hat. Auf dem Fußboden sind CD-Hüllen verstreut, und ein Tapeziertisch ist umgestürzt. Ein gerahmtes Foto liegt zwischen Scherben mit der Vorderseite nach unten. Ihre dünne Goldkette ist am Verschluss gerissen.
Die arme Elisa. Ich spüre noch die Weichheit ihrer Lippen, als sie mir zum Abschied im Restaurant einen Kuss auf die Wange gegeben hat. Sie trägt dasselbe dunkelblaue Top mit dem passenden Minirock. Es muss am Donnerstag passiert sein, irgendwann nachdem wir uns getrennt haben.
Ich gehe von Zimmer zu Zimmer und suche Spuren für ein gewaltsames Eindringen. Die Haustür war von außen abgeschlossen. Der Täter muss einen Satz Schlüssel mitgenommen haben.
Auf der Anrichte in der Küche steht ein Becher mit einem Löffel löslichen Kaffees, der zu einer Masse wie dunkles Karamell verschmolzen ist. Der Kessel liegt auf der Seite, und einer der Küchenstühle ist umgestürzt. Eine Küchenschublade steht offen. Darin befinden sich ordentlich gefaltete Geschirrtücher, ein kleiner Werkzeugkasten, Sicherungen und eine Rolle schwarzer Mülltüten. Die Küche ist aufgeräumt, im Mülleimer befindet sich ein frischer Beutel.
Elisas Mantel hängt über der Tür. Ihre Autoschlüssel liegen neben ihrer Handtasche auf dem Tisch, daneben zwei ungeöffnete Briefe und ihr Handy. Der
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