Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
und ich kann die Uhr nicht anhalten.
Auf der Straße nach Hatchmere kommen mir zwei Polizeiwagen entgegen. Mel muss ihnen schließlich doch Erskines Adresse genannt haben. Das mit dem Landrover können sie nicht wissen – jedenfalls noch nicht. Die kleine alte Dame mit
dem fotografischen Gedächtnis wird es ihnen sagen. Mit ein wenig Glück erzählt sie vorher noch ihre Lebensgeschichte und gibt mir damit Zeit zu entkommen.
Immer wieder blicke ich in den Rückspiegel und erwarte jeden Moment, ein flackerndes Blaulicht zu sehen. Dies wird das Gegenteil einer Hochgeschwindigkeitsverfolgungsjagd. Sie könnten mich mit Fahrrädern überholen, es sei denn, ich finde den vierten Gang. Vielleicht gibt es eine O.-J.-Simpson-Szenerie mit einer Wagenkolonne in Zeitlupe, gefilmt aus dem Hubschrauber eines Nachrichtensenders.
Die Schlussszene aus Butch Cassidy und Sundance Kid fällt mir ein, in der Redford und Newman lockere Witzchen machen, während sie hinausgehen, um der mexikanischen Armee entgegenzutreten. Was das Sterben betrifft, bin ich persönlich nicht ganz so furchtlos. Und ich kann auch nichts Glorreiches finden an einem Kugelhagel und einem geschlossenen Sarg.
Lucas Dutton wohnt in einem roten Backsteinhaus in einer Straße am Stadtrand, wo die Läden an der Ecke verschwunden und von Dealern und Puffs ersetzt worden sind. Jede freie Wand ist voll gesprayt. Sogar Volkskunst und protestantische Wandgemälde sind ohne jedes Gefühl für Farbe oder Kreativität in geistlosem bösartigem Vandalismus verunziert worden.
Lucas steht auf einer Leiter in seiner Einfahrt und schraubt einen Basketball-Korb von der Wand ab. Seine Haare sind noch dunkler, doch um die Hüften ist er fülliger geworden, und seine Stirn ist von tiefen Furchen gezeichnet, die sich in seinen buschigen Augenbrauen verlieren.
»Soll ich mit anpacken?«
Er blickt nach unten und braucht einen Moment, bis ihm ein Name zu meinem Gesicht einfällt.
»Die Dinger sind angerostet«, sagt er und tippt auf die Bolzen. Er steigt von der Leiter, wischt sich die Hände an seinem Hemd ab und gibt mir die Hand. Gleichzeitig blickt er verräterisch
nervös zur Haustür. Seine Frau muss im Haus sein. Sie werden die Nachrichten im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört haben.
Aus einem Fenster im ersten Stock dröhnt Musik, jede Menge wummernder Bass und gescratchte Beats. Lucas folgt meinem Blick.
»Ich sage ihr ständig, sie soll es leiser machen, aber sie erklärt mir, dass es laut sein muss. Vermutlich eine Altersfrage.«
Ich kann mich an die Zwillinge erinnern. Sonia war eine gute Schwimmerin, die elegant durchs Meer oder den heimischen Pool kraulte. Ich war einmal auf eine Grillparty im Haus ihrer Eltern eingeladen, als sie ungefähr neun gewesen sein muss. Sie erklärte, dass sie eines Tages den Kanal durchschwimmen würde.
»Durch den Tunnel ginge es viel schneller«, erwiderte ich.
Alle lachten, aber Sonia verdrehte die Augen. Danach mochte sie mich nicht mehr.
Ihre Zwillingsschwester Claire war ein Bücherwurm mit einer Nickelbrille und trägen Augen. Sie verbrachte den größten Teil des Abends in ihrem Zimmer und beschwerte sich, dass sie das Fernsehen nicht verstehen konnte, weil draußen alle »plapperten wie die Affen«.
Lucas klappt die Leiter zusammen und erklärt, dass »die Mädchen den Korb nicht mehr benutzen«.
»Ich habe das mit Sonia gehört. Tut mir Leid«, sage ich.
Er tut so, als hätte er mich nicht gehört. Werkzeug wird im Werkzeugkasten verstaut. Ich will ihn gerade fragen, was passiert ist, als er zu erzählen beginnt, dass Sonia bei den nationalen Schwimmmeisterschaften zwei Titel gewonnen und einen Langstreckenrekord gebrochen hat.
»Doch nach all dem Training, all den frühmorgendlichen Runden, Meile für Meile, wusste sie, dass sie nicht gut genug sein würde. Es gibt eine feine Grenze zwischen gut und herausragend …«
Ich lasse ihn weiterreden, weil ich spüre, dass er mir etwas
sagen will. Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Sonia Dutton, knapp 23, machte sich für ein Rock-Konzert schick, auf das sie zusammen mit Claire und einer Gruppe von Freundinnen von der Uni ging. Irgendjemand gab ihr eine weiße Pille mit einem eingeprägten Shell-Logo. Dabei war sie in Bezug auf Medikamente und Aufbaupräparate immer so vorsichtig gewesen. Sie tanzte die ganze Nacht, bis ihr Herz plötzlich zu rasen begann und ihr Blutdruck in die Höhe schoss. Sie hatte einen Schwächeanfall und geriet in Panik, bevor sie
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