Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
das?«
»Mit wem war sie zusammen?«
»Mit einem Jungen.«
»Wie alt?«
»Vielleicht fünf oder sechs.«
»Und wo war der Junge?«
»Sie hat ihn an der Hand hinter sich hergezerrt. Er hat geschrien. Ich meine, wirklich geschrien. Sie hat versucht, ihn zu ignorieren. Er hat sich einfach hängen lassen, und sie musste ihn hinter sich herschleifen. Und das Kind schrie bloß immer weiter. Und irgendwann habe ich mich gefragt, warum sie nicht mit ihm redet. Wie kann sie ihn schreien lassen? Er hat Angst oder Schmerzen. Sonst hat auch niemand reagiert. Das hat mich wütend gemacht. Wie konnten sie alle einfach tatenlos zusehen?«
»Auf wen warst du wütend?«
»Auf alle. Ich war wütend über die Gleichgültigkeit der Menschen. Ich war wütend über die Achtlosigkeit der Frau. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich den kleinen Jungen gehasst habe. Ich wollte bloß, dass er aufhört zu schreien …«
»Und was hast du getan?«
Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Ich wollte, dass sie macht, dass er aufhört. Ich wollte, dass sie ihm zuhört.« Er hält inne.
»Hast du irgendwas zu ihr gesagt?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Die Tür des Taxis stand offen. Sie hat den Jungen hineingeschubst. Der Kleine hat mit den Beinen gestrampelt. Sie steigt nach ihm ein und wendet den Kopf zur Tür. Ihr Gesicht ist wie eine Maske … ausdruckslos, wissen Sie. Sie holt aus und stößt ihm den Ellenbogen direkt ins Gesicht. Er sinkt rückwärts in sich zusammen …«
Bobby macht eine Pause und setzt dann an, um fortzufahren.
Doch er unterbricht sich. Schweigen türmt sich auf. Ich lasse es seinen Kopf ausfüllen und sich in alle Ecken ausbreiten.
»Ich habe sie aus dem Taxi gezerrt. Ich habe ihre Haare gepackt und ihr Gesicht gegen die Scheibe geschlagen. Sie ist zu Boden gefallen und wollte sich wegdrehen, aber ich habe immer weiter auf sie eingetreten.«
»Hast du gedacht, du würdest sie bestrafen?«
»Ja.«
»Hatte sie es verdient?«
»Ja!«
Er starrt mich direkt an – sein Gesicht weiß wie Wachs. In diesem Augenblick sehe ich das Bild eines Kindes in einer einsamen Ecke des Spielplatzes, übergewichtig und abstrus groß, Träger eines Spitznamens wie Schwabbelarsch oder Schweinebacke, ein Kind, für das die Welt ein riesiger leerer Ort ist. Ein Kind, das unsichtbar sein möchte, aber dazu verdammt ist aufzufallen.
»Ich habe heute einen toten Vogel gefunden«, sagt Bobby geistesabwesend. »Sein Genick war gebrochen. Vielleicht ist er überfahren worden.«
»Durchaus möglich.«
»Ich habe ihn aus dem Weg geräumt. Sein Körper war noch warm. Denken Sie je ans Sterben?«
»Ich glaube, das tut jeder.«
»Manche Menschen haben es verdient zu sterben.«
»Und wer soll der Richter darüber sein?«
Er lacht bitter. »Jedenfalls nicht Menschen wie Sie.«
Wir überziehen die Sitzung, Meena ist bereits heim zu ihren Katzen gegangen. Die meisten benachbarten Büros sind verschlossen und dunkel. Putzfrauen bewegen sich durch die Flure, leeren Papierkörbe und kratzen mit ihren Wagen Lacksplitter von den Fußleisten.
Bobby ist auch gegangen. Aber wenn ich auf das dunkle Rechteck
des Fensters starre, kann ich mir sein Gesicht vorstellen, schweißgebadet und mit dem Blut der armen Frau bespritzt.
Ich hätte es kommen sehen müssen. Er ist mein Patient, meine Verantwortung. Ich weiß, dass ich ihn nicht an die Hand nehmen und dazu zwingen kann, zu mir zu kommen, aber das ist kein Trost. Bobby war so dicht vor den Tränen, als er berichtete, dass Anzeige gegen ihn erstattet worden ist, doch er hatte mehr Mitleid mit sich selber als mit der Frau, die er verprügelt hat.
Ich gebe mir Mühe, mich um einige meiner Patienten zu kümmern. Sie bezahlen neunzig Pfund und starren auf ihren Bauchnabel oder jammern über Dinge, die sie besser ihrem Partner erklären würden als mir. Bobby ist anders. Ich weiß nicht, warum. Manchmal scheint er von seiner Unbeholfenheit komplett gelähmt, dann wieder überrascht er mich mit seinem Selbstvertrauen und Intellekt. Er lacht an den falschen Stellen, explodiert unvermittelt, und seine Augen sind so blass und kalt wie blaues Glas.
Manchmal denke ich, er wartet auf irgendwas – darauf, dass sich Berge bewegen oder alle Planeten zu einer Linie aufreihen. Und wenn alles an seinem Platz ist, wird er mich schließlich wissen lassen, was los ist.
Darauf kann ich nicht warten. Ich muss ihn jetzt verstehen.
8
Muhammad Ali hat einiges zu verantworten. Als er bei den Olympischen
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