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Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect

Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect

Titel: Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Robotham
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mich.
    »Vermutlich habe ich deshalb so viele Besucher.«
    Sie war zwanzig, materialistisch, praktisch und hatte eine Affäre mit irgendwem aus der Belegschaft. Ich weiß nicht, wer es war, aber ich vermute, dass er verheiratet war. Manchmal sagte sie »wir« und wechselte, wenn sie ihren Fehler bemerkte, rasch zurück in den Singular.
    Sie lächelte nur sehr selten. Sie legte den Kopf auf die Seite und betrachtete mich mit dem einen oder dem anderen Auge.
    Ich hatte außerdem den Verdacht, dass sie vor mir schon irgendjemanden konsultiert hatte. Ihre Fragen waren so präzise. Sie kannte sich mit Anamnese und kognitiver Therapie aus. Sie war zu jung, um Psychologie studiert zu haben, also musste sie eine Patientin gewesen sein.
    Sie berichtete, dass sie sich wertlos und unbedeutend fühlte. Sie hatte sich von ihrer Familie entfremdet und versucht, Frieden mit ihnen zu schließen, hatte jedoch Angst, dass sie deren »perfektes Leben vergiften« würde.
    Während sie redete und Schokoladenstückchen lutschte, rieb sie sich manchmal über die Unterarme unter ihren langen Ärmeln. Ich vermutete, dass sie etwas verbarg, wartete jedoch darauf, dass sie das Vertrauen entwickelte, mir davon zu erzählen.

    Während unserer vierten Sitzung krempelte sie langsam die Ärmel auf. Es war ihr peinlich, mir die Wunden zu zeigen, doch ich spürte auch Trotz und einen Hauch Selbstzufriedenheit. Sie wollte, dass ich von der Schwere ihrer Verletzungen beeindruckt war. Sie waren wie eine Karte ihres Lebens, die ich lesen konnte.
    Zum ersten Mal hatte Catherine sich mit zwölf Jahren geschnitten. Ihre Eltern machten gerade eine hasserfüllte Scheidung durch. Sie hatte das Gefühl, in der Mitte zu stecken wie eine Puppe, die von zwei streitenden Kindern zerrissen wird.
    Sie wickelte einen Taschenspiegel in ein Handtuch und zertrümmerte ihn an einer Schreibtischkante. Mit einer der Scherben ritzte sie sich das Handgelenk auf. Das Blut gab ihr ein Gefühl von Wohlbehagen. Sie war nicht mehr hilflos.
    Ihre Eltern verfrachteten sie ins Auto und fuhren sie ins Krankenhaus. Während der ganzen Fahrt stritten sie darüber, wessen Schuld es war. Catherine fühlte sich ruhig und friedlich. Man behielt sie über Nacht da. Die Schnitte hatten aufgehört zu bluten. Sie strich liebevoll über ihre Wunden und gab ihnen einen Gutenachtkuss.
    »Ich hatte etwas gefunden, das ich kontrollieren konnte«, erklärte sie mir. »Ich konnte entscheiden, wie oft ich mich schnitt und wie tief. Ich mochte den Schmerz. Ich verzehrte mich nach dem Schmerz. Ich hatte ihn verdient. Ich weiß, dass ich masochistische Tendenzen haben muss. Sie sollten mal die Männer sehen, bei denen ich immer lande. Sie sollten sich einige meiner Träume anhören…«
    Sie gab nie zu, dass sie in einer psychiatrischen Klinik oder Gruppentherapie gewesen war. Vieles von ihrer Vergangenheit hielt sie verborgen, vor allem wenn es um ihre Familie ging. Sie schaffte es über längere Phasen, sich nicht zu ritzen. Aber bei jedem Rückfall bestrafte sie sich, indem sie noch tiefer schnitt. Sie beschränkte sich auf ihre Arme und Oberschenkel, wo sie die Wunden unter der Kleidung verstecken konnte. Außerdem
fand sie heraus, welche Salben und Verbände die Wunden möglichst unsichtbar verheilen ließen.
    Wenn sie genäht werden musste, mied sie die Notaufnahme des Marsden Hospital. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Job zu verlieren. Sie gab bei der Aufnahme Fantasienamen an und manchmal auch vor, Ausländerin zu sein und kein Englisch zu sprechen.
    Sie wusste aus eigener Erfahrung, was Ärzte und Schwestern von Menschen hielten, die sich selbst verstümmelten – Ritzer heischten um Aufmerksamkeit und verschwendeten jedermanns Zeit. Häufig wurden sie ohne Betäubung genäht, frei nach dem Motto: »Wenn Sie Schmerzen so lieben, wie wär’s mit ein bisschen mehr.«
    Aber nichts von all dem bewog Catherine, ihr Verhalten zu ändern. Wenn sie blutete, konnte sie der Taubheit entfliehen. In meinem Notizbuch stehen ihre Worte: »Ich fühle mich lebendig. Besänftigt. Und mächtig.«
    Zwischen den Seiten kleben dunkle Schokoladenkrümel, die sie beim Abbrechen der Stücke verstreut hatte. Sie mochte es nicht, wenn ich schrieb. Sie wollte, dass ich zuhörte.
    Um den blutigen Kreislauf zu durchbrechen, schlug ich ihr Alternativstrategien vor. Ich erklärte, dass sie, anstatt nach der Rasierklinge zu greifen, ein Stück Eis in den Händen zerdrücken, auf eine Chilischote beißen oder sich

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