Adrienne Mesurat
Neugier an. Alles, was sie gedacht hatte, wurde in ihrem Gedächtnis ausgelöscht. Sie begriff, daß sie machtlos war, daß alles Hin- und Herüberlegen sie nur verbitterte und es nun einmal nichts zu ändern gab an der Tatsache, daß sie verliebt war.
Sie lauschte nun schon so lange angestrengt, daß sie sich schließlich einbildete, auf dem Gartenweg Schritte zu hören; sie gingen auf die Haustür zu. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wenn es Marie Maurecourt war und sie ihr auf der Straße begegnen würde, was sollte sie dann tun? »Und wenn er es ist?« dachte sie. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie faltete die Hände und murmelte »Nein, nein«. Ihre Kräfte verließen sie, sie krampfte die Finger ineinander, wie um sie dadurch zurückzuhalten. Plötzlich trat sie vom Bürgersteig herunter und überquerte die Straße.
»Es hat keinen Sinn«, sagte sie hastig, halblaut, »ich kann nicht mit ihm sprechen, ich kann nicht.«
Und während sie in ihrem Kleid den Brief zerknüllte, rannen ihr Tränen über die Wangen.
Nach Hause gehen, das Gartentor zuschlagen hören – ihr schien, sie würde nicht den Mut dazu aufbringen. Sie spazierte eine Weile durch die Straße, unentschlossen, mit zugeschnürter Kehle. Durch ihre Tränen hindurch sah sie den Himmel, über den langsam eine Wolke zog, und Telegraphendrähte, auf denen von der Hitze ermattete Vögel ausruhten. Sie ging auf und ab. Ein Schluchzen schüttelte sie plötzlich und überraschte sie, als käme dieser heisere, kurze Laut aus ihrer Kehle von jemand anderem.
»Das ist zuviel«, dachte sie, »ich werde verrückt. Ich kann nicht länger so leiden.«
In ihrer Bangigkeit neigte sie den Kopf, bis ihr Kinn die Brust berührte, und rang stumm die Hände. Nichts, was sie bisher gelitten hatte, war vergleichbar mit den grauenvollen Minuten, die sie seit einer Viertelstunde durchlebte. Ihr war, als habe sie vor diesem Augenblick nicht gewußt, was weinen bedeutet, als seien ihre Ängste, ihre Enttäuschungen, ihre Verzweiflung von einst nichts als Einbildungen und als stehe sie nun zum ersten Mal vor einer schauerlichen Wirklichkeit und sei auf dem tiefsten Grund ihres Schmerzes angelangt. Am liebsten hätte sie sich gekrümmt, sich zusammengerollt. Der Gedanke an den Tod ging ihr durch den Kopf und erschütterte sie nicht; sie erinnerte sich an ihr Entsetzen vor zwei Tagen, als sie geglaubt hatte, die Krankheit ihrer Schwester habe sich auf sie übertragen, aber sie erschauderte nicht, und was ihr noch vor kurzem Schrecken eingejagt hatte, ließ sie nun gleichgültig.
»Vielleicht nimmt so alles ein Ende«, sagte sie sich.
Sie blieb stehen und blickte auf; mehrere Male war sie am Gartentor der Villa Louise vorübergegangen. Die Szene mit Madame Legras kam ihr wieder in den Sinn, aber nur ganz verschwommen. Alles, was sich vor dem Besuch von Marie Maurecourt ereignet hatte, lag wie in weiter Ferne, und selbst dieser Besuch schien keine Bedeutung mehr zu haben. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, betrunken zu sein. Ihre Knie gaben nach. Sie zog an der Klingelschnur, und ohne abzuwarten, daß jemand öffnen kam, drehte sie den Knauf herum und schob das Tor auf. Kaum hatte sie ein paar Schritte in den Garten gemacht, fiel sie bewußtlos auf den Rasen.
IV
»Nein«, sagte Madame Legras gebieterisch, »bleiben Sie liegen. Henriette bringt Ihnen gleich eine kleine Stärkung, und danach werden Sie versuchen, eine Stunde lang Ruhe zu geben.«
Adrienne, die sich auf einem Ellbogen aufgerichtet hatte, ließ sich wieder zurücksinken. Sie lag auf einer Chaiselongue in Madame Legras' Schlafzimmer und blickte um sich, ohne daß sie ihre Umgebung zu sehen schien. Endlich blieb ihr Blick an ihrer Nachbarin hängen, die in einem malvenfarbenen Morgenmantel neben ihr stand und aufmerksam über sie wachte.
»Wie lange bin ich schon hier?« fragte Adrienne nach einer Weile.
Madame Legras schaute auf eine kleine Uhr an der Wand.
»Zwanzig Minuten. Fühlen Sie sich ein wenig besser?«
Adrienne antwortete nicht.
»Sprechen Sie nicht, wenn es Sie anstrengt«, sagte Madame Legras und setzte sich zu ihr. »Sagen Sie mir nur, ob Sie etwas brauchen.«
Es klopfte an der Tür. Madame Legras ging öffnen und kam mit einem halbvollen Likörglas zurück.
»Trinken Sie das«, befahl sie und stützte dem jungen Mädchen den Kopf.
»Danke«, murmelte Adrienne, nachdem sie das Glas geleert hatte.
»Mein armes Kind«, sagte Madame Legras, während sie ihren Platz wieder
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