Adrienne Mesurat
die Tür ins Schloß fiel und die Schritte zurück ins Haus gingen. Sie wartete noch einige Sekunden und kehrte dann, nach einem kurzen Spaziergang bis zur Landstraße, in die Villa des Charmes zurück.
Auf dem Sekretär im Salon lag ein Brief, der offenbar während ihrer Abwesenheit abgegeben worden war. Mit einem Blick glaubte sie, die Handschrift zu erkennen, und der Resedaduft, der von ihm ausströmte, bestätigte ihre Befürchtungen: der Brief war von Madame Legras.
Sie setzte sich und überlegte eine Zeitlang, ohne ihn zu öffnen. Denn sie stellte sich sofort das Schlimmste vor: ihre Nachbarin hatte sie bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Ach, jetzt war es an der Zeit, jemanden um Rat zu bitten. Sie riß den Umschlag auf und zog ein fliederfarbenes Kärtchen heraus, das sie beim ersten Lesen gar nicht verstand:
Mein liebes Kind, schrieb Madame Legras, wir sind alle beide verrückt, uns so zu zanken. Ich weiß nicht, woher Sie Ihr Urteil über mich haben, noch wie ich selbst auf all aie Dinge gekommen bin, die ich Ihnen heute morgen sagte. Schreiben wir es der schwülen Gewitterstimmung zu, und umarmen Sie, wenn Sie meiner Meinung sind, Ihre alte Freundin Léontine Legras.
Adrienne ließ den Kopf auf die Armlehne des Kanapees sinken, auf dem sie saß, und rührte sich eine ganze Weile nicht.
Gegen drei Uhr bekam sie Besuch von Mademoiselle Marie Maurecourt und war verblüfft über die eisige Kälte, die sie ihr am Gesicht ablesen konnte.
»Sie haben mich gerufen, Mademoiselle«, sagte sie.
»Ja, das stimmt«, sagte Adrienne.
Sie setzten sich einander gegenüber. Mademoiselle Maurecourt war mit Sorgfalt, beinahe feierlich gekleidet; sie trug einen Hut aus schwarzer Seide, den kleine Federn in derselben Farbe schmückten. Hinter den feinen Maschen ihres Schleiers war ihr Gesicht fast zur Gänze versteckt, und man konnte nur die glanzlose gelbliche Farbe ihrer Haut und die dunklen, funkelnden Augen sehen. Eine Jacke und ein Kleid aus blauer Serge verbargen die Magerkeit ihres Körpers nur schlecht, obwohl sie weit geschnitten waren. Sie legte ihre Hände, die in schwarzen Zwirnhandschuhen steckten, im Schoß übereinander und schien auf eine Erklärung zu warten.
»Ja, das stimmt«, wiederholte Adrienne mühsam. »Hatten sie mir nicht gesagt, ich dürfe mich an Sie wenden, wann immer ich…?«
Beinahe hätte sie gesagt: wann immer ich mich traurig fühle, doch angesichts der ernsten und abweisenden Miene der Besucherin unterbrach sie sich; die Worte kamen ihr lächerlich vor. Und seit sie Madame Legras' Brief erhalten hatte, wußte sie auch nicht mehr so recht, wozu eine Unterredung mit der Schwester des Doktors gut sein sollte, und bereute, ihr geschrieben zu haben.
»Was wollten Sie mir sagen, Mademoiselle?« fragte Marie Maurecourt.
Adrienne schlug die Augen nieder und sah auf ihre Hände, die sie ebenfalls im Schoß übereinandergelegt hatte. Eine kurze Stille trat ein.
»Mademoiselle«, sagte Marie Maurecourt plötzlich, »seit meinem letzten Besuch hat sich meine Meinung geändert. Ich habe über unser Gespräch nachgedacht. Und ich habe den Eindruck gewonnen, daß Sie sehr wohl ohne meine Gesellschaft auskommen können. Zumal Ihre Einsamkeit, wenn ich allem, was man mir erzählt hat, Glauben schenken darf, nicht so groß ist, wie Sie mich annehmen ließen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen«, erwiderte Adrienne zögernd.
»Wirklich?« fragte Marie Maurecourt spöttisch. »Sie erfreuen sich einer exzellenten Nachbarschaft, Mademoiselle. Ich beglückwünsche Sie dazu. Léontine Legras ist gewiß eine sehr einnehmende Person. Darum ist es höchst bedauerlich, daß mein Bruder und ich es nicht für statthaft halten, die Bekanntschaft solcher Frauen zu machen…«
Sie unterbrach sich und sah das junge Mädchen fest an.
»… oder die ihrer Freundinnen.«
»Sie sind ja verrückt!« schrie Adrienne.
»Bleiben Sie höflich, Mademoiselle«, fuhr Marie Maurecourt mit gekünstelter Stimme fort. »Ein gesittetes Benehmen ist selbst unter Umständen, wie sie mich hierher führen, etwas Unerläßliches. Ich sagte schon, daß es Ihnen freisteht, sich Ihre Freundinnen auszusuchen, wie es Ihnen beliebt, aber in Anbetracht des Charakters Ihrer Freundin Léontine Legras, des Standes, dem sie angehört, durften Sie nicht einmal daran denken, Beziehungen mit uns zu unterhalten.«
Adrienne wurde rot.
»Ich sehe Madame Legras nicht mehr«, sagte sie.
»Das ist wohl ganz neu«, entgegnete Marie
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