Adrienne Mesurat
war, doch angesichts der störrischen Miene Adriennes, die ihr nicht zuzuhören schien, verlor sie die Geduld und rief:
»Also, wir sind wirklich schlau, wir beide! Glauben Sie denn, er denkt an Liebe, an Heiraten? Da sieht man, daß Sie ihn nicht kennen. Er denkt nur an seine Kranken.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte das junge Mädchen.
»Daß er kein Mann ist wie die anderen. Ach! Mein armes Kleines, ich weiß nur zu gut, daß man es sich nicht aussuchen kann, aber schlechter konnten Sie es nicht treffen. Es wäre besser gewesen, mich schon früher um Rat zu fragen. Ich hätte Ihnen alles gesagt.«
»Aber was, was?«
»Ach, wie soll ich das wissen? Er ist ein Mann, den man jeden Morgen in der Messe sieht, fromm wie ein altes Weib, und immer steckt er bei seinen Kranken, mal im Hospiz Soundso, dann in der Klinik Sowieso. Er ist weit und breit bekannt. Dreimal pro Woche fährt er ins Krankenhaus von Dreux, wo er unentgeltlich Sprechstunde hält. Und dann hat er alle möglichen Theorien, wie man Kranke behandeln muß, er macht nichts wie die anderen. Nun, Sie sehen schon.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Adrienne zum zweiten Mal.
Sie war so blaß geworden, daß Madame Legras wieder Angst bekam und sie zu beruhigen suchte.
»Meine arme Adrienne, ich sage Ihnen das alles nur zu Ihrem Besten. Sie wissen, ich kenne ihn nicht, diesen Doktor Maurecourt. Wahrscheinlich hat er ja ein Herz wie alle anderen auch, aber wenn man nach dem äußeren Anschein urteilt … also… «
»Wenn Sie ihn nicht kennen, warum sprechen Sie dann so über ihn?« rief Adrienne und richtete sich auf. »Warum soll er mich nicht lieben können?«
Sie erhob sich plötzlich und fiel vor Madame Legras auf die Knie, die ebenfalls aufstand.
»Madame!« stammelte Adrienne außer sich.
Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken; sie wiederholte: »Madame!« mit so angsterfüllter Stimme, daß Léon-tine Legras glaubte, sie werde im nächsten Augenblick sterben.
»Aber Kind«, sagte sie und nahm ihre Hände, »bleiben Sie doch nicht hier liegen. Mein Gott, was hat sie nur?«
»Helfen Sie mir, Madame«, stammelte Adrienne schluchzend.
»Ich? Wie denn? Genug jetzt, stehen Sie auf. Wir werden schon sehen. Ein wenig Mut, Himmelherrgott noch mal! Auch in meinem Leben hat es schwere Zeiten gegeben. Wenn Sie glauben, daß Sie die einzige sind!«
Sie zwang Adrienne aufzustehen und setzte sich mit ihr auf die Chaiselongue. Vor Aufregung zitterte sie, und ihre Stimme klang zornig, als sie zu dem jungen Mädchen sagte:
»Wirklich, Sie lassen sich gehen. Sie sind doch kein kleines Mädchen mehr.«
»Es ist doch nicht meine Schuld«, rief Adrienne. »Ich halte es nicht mehr aus, ich werde verrückt, wenn ich so weiterleben muß. Ich kann mit niemandem reden, ich muß das alles in mir behalten, den ganzen Tag, die ganze Nacht.«
»Sprechen Sie mit ihm.«
»Ich kann nicht.«
»Dann schreiben Sie ihm.«
»Das ist sinnlos, seine Schwester sieht alle Briefe durch, bevor sie sie weitergibt. Sie kennt meine Schrift. Hier, ich hatte ihm geschrieben«, sie zog den Brief aus ihrem Kleid, »ich wollte ihm diese Zeilen eigenhändig übergeben, und dann konnte ich nicht.«
»Das heißt wohl, ich soll sie ihm geben, oder? Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen. Herrje! Sie sind wirklich kein bißchen Frau! Verstehen Sie nicht, daß man eine Geschichte niemals auf diese Weise anfangen kann? Und außerdem kenne ich ihn doch gar nicht. Mich können Sie nicht als Vermittlerin einschalten. Das würde sehr unschön wirken. Freunden Sie sich mit ihm an, stellen Sie mich vor, und dann werden wir weitersehen.«
»Das ist unmöglich. Ich habe mich mit seiner Schwester überworfen.«
Madame Legras hob die Hände zur Decke.
»Alle Fehler, alle? Also gut, geben Sie mir diesen Brief, ich spüre, daß ich am Ende noch die Geduld verliere. Geben Sie schon her.«
Mit einer herrischen Geste nahm sie den Brief an sich.
»Lesen Sie ihn nicht«, sagte Adrienne.
Madame Legras maß sie mit einem verächtlichen Blick.
»Hören Sie«, sagte sie schließlich. »Dieser Mann wird hierherkommen. Ich empfange ihn unten im Salon. Ich sage ihm, daß dieser Brief aus Ihrer Korsage gefallen ist, als wir Ihnen die Kleider lockerten. Er wird ihn lesen. Sie können sicher sein, daß er Sie nicht sofort sehen will. Wenn er die Natur Ihrer Krankheit erst einmal kennt, wird er, wenn er kein Schwachkopf ist, warten, bis Sie ruhiger geworden sind. Er wird Ihnen antworten, Sie
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