Adrienne Mesurat
Maurecourt ungläubig. »Ich habe erfahren, daß Madame Legras, wie Sie sie nennen, Sie heute morgen mit einem Besuch beehrt hat.«
»Gegen meinen Willen, Mademoiselle.«
»Ach? Mag sein, aber der Briefwechsel geht munter weiter. Heute nachmittag haben Sie Post von ihr bekommen.«
»Sie spionieren mir nach, Mademoiselle, das werde ich nicht dulden.«
»Ich ziehe Erkundigungen ein, bevor ich einer Fremden das Haus einer ehrbaren Familie öffne. Nun weiß ich Bescheid.«
»Bescheid worüber?« fragte Adrienne mit erhobener Stimme.
»Darüber, was Sie sind, Mademoiselle Mesurat«, sagte sie schroff. »Beweise gibt es reichlich.«
Adrienne hatte sich nicht mehr in der Gewalt. Sie vergaß alle Vorsicht, die ihr riet, die Brücken zwischen sich und den Maurecourts nicht abzubrechen, und konnte ihren Zorn nicht mehr beherrschen.
»Erklären Sie sich«, sagte sie mit bebender Stimme, »ich verlange, daß Sie sich erklären.«
Anstatt zu antworten, öffnete Marie Maurecourt eine schwarze Stofftasche, die sie in den Händen hielt, und holte einen Brief hervor.
»Haben Sie das hier geschrieben?« fragte sie.
»Gewiß, Mademoiselle, das ist der Brief, den ich Ihnen nach dem Mittagessen geschickt habe.«
»Ausgezeichnet. Und dies?«
Sie warf ihr einen Umschlag in den Schoß. Adrienne nahm ihn und zog die Karte heraus, die sie in Montfort geschrieben hatte. Sie stieß einen Schrei aus.
»Ihr Schrei ist sehr aufschlußreich«, bemerkte Marie Maurecourt und schloß ihre Tasche.
Adrienne stand auf und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
»Diese Karte war nicht an Sie gerichtet«, sagte sie schließlich mit veränderter Stimme.
»Ich sage Ihnen lieber gleich, daß sie nie bis zu ihrem Adressaten vorgedrungen ist«, antwortete Marie Maurecourt, während sie den Bewegungen des jungen Mädchens mit einem verächtlichen Lächeln folgte.
»Sie haben sie gestohlen!« rief Adrienne. »Das ist niederträchtig, Mademoiselle.«
Marie Maurecourt blieb vollkommen ruhig.
»Und wie würden Sie das nennen, was Sie getan haben?« fragte sie. »Schreiben Sie oft solche Liebeserklärungen? Die Legras gibt Ihnen sicher wertvolle Ratschläge, Mademoiselle. Ich wundere mich nicht mehr über Ihre Bekanntschaften.«
Adrienne stampfte mit dem Fuß auf.
»Raus mit Ihnen«, schrie sie.
»Nicht bevor ich Sie gewarnt habe, daß ich beim nächsten derartigen Brief, den ich in meinem Postkasten finde, Ihr Betragen an die Öffentlichkeit bringe. Ich lasse einen Artikel in den Moniteur de Seine-et-Oise setzen. Dann werden wir ja sehen, was die anständigen Leute von Ihnen halten!«
Sie erhob sich plötzlich, bog den Oberkörper nach hinten und trat einen Schritt zurück, dann warf sie schulterzuckend einen letzten, verächtlichen Blick auf das junge Mädchen und ging.
Adrienne preßte die Finger auf den Mund, um den Wutschrei zu ersticken, der in ihrer Brust emporstieg, und ließ sich auf das Kanapee fallen. Ihre Hände zitterten; mit geballten Fäusten schlug sie sich mehrmals auf die Knie.
»Ich werde zu ihm gehen«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, die ihr in der Kehle steckenzubleiben schien. »Diese Frau hat ihm vielleicht weiß Gott was erzählt.«
Sie zog ihr Taschentuch aus dem Kleid und wischte sich über den Mund.
»Ach was«, sagte sie im Aufstehen, »ach was. Ich werde mich doch von einer übellaunigen alten Jungfer nicht entmutigen lassen. Das darf nicht sein.«
Die Korsage ihres Kleides beengte sie, die Fischbeinstäbchen des Halskragens drückten sie unter dem Kinn; sie hakte das Kleid, in dem ihr zu warm war, ein wenig auf und seufzte.
»Ach was«, wiederholte sie und begann wieder, auf und ab zu gehen. »Das darf nicht sein.«
Auf einmal setzte sie sich an den Sekretär, griff nach einer Feder und schrieb:
Monsieur, ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat.
Dieser Satz mißfiel ihr; sie zerriß das Papier und fing noch einmal von vorne an:
Monsieur, ich muß Sie unbedingt sehen.
Aber auch dieser Anfang schien ihr nicht besser gelungen als der erste. Sie zerriß auch das zweite Blatt, stützte die Ellbogen auf den Sekretär und legte die Stirn in die Hände.
»Was soll ich tun, mein Gott, was soll ich tun?« sagte sie laut, mit einer Mischung aus Zorn und Niedergeschlagenheit.
Sie spürte, daß ihre Kräfte sie verlassen würden, wenn sie sich nicht sofort wieder faßte. Sie nahm ein drittes Blatt und schrieb in einem Zug folgenden Brief:
Monsieur, ich will Sie sehen. Ich hätte Sie schon
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