Adrienne Mesurat
längst bitten sollen, mir zu helfen, denn ich brauche Ihre Hilfe. Falls Ihnen schon jemand von mir erzählt hat, so glauben Sie nichts von dem, was man Ihnen gesagt hat. Ich hin furchtbar unglücklich, ich kann nicht länger leiden. Es ist Ihre Pflicht, mir zu helfen, hierher zu kommen und mit mir zu sprechen, allein.
Sie hielt inne.
»Ich kann diesen Brief nicht abschicken«, sagte sie; und plötzlich rief sie in entschiedenem Ton: »Was macht das schon! Mir kann nichts Schlimmeres mehr passieren, als ich heute ertragen mußte. Außerdem bin ich sicher, daß er mich verstehen wird.«
Sie fügte hinzu: Ich bin sicher, daß Sie mich verstehen werden, und unterzeichnete.
Nachdem sie die Adresse auf den Umschlag geschrieben hatte, hakte sie ihren Kragen wieder zu, setzte ihren Hut auf und ging hinaus. Sie wollte diesen Brief eigenhändig dem Doktor übergeben, dann nach Hause zurückkehren und warten. In der Verfassung, in der sie sich befand, kam ihr dieser Plan ganz einfach vor. Nach Wochen des Zögerns und der Unsicherheit sah sie mit einemmal klar, es war eine Art Entschädigung, sagte sie sich, für alles, was sie zuvor erduldet hatte. Sie wunderte sich, nicht schon früher an diese Möglichkeit gedacht zu haben.
»Vielleicht hätte ich ihm lieber sagen sollen, daß ich ärztlichen Rat brauche«, dachte sie beim Überqueren der Straße.
Aber sofort sagte sie sich:
»Macht nichts, ich kann diesen Brief nicht noch einmal schreiben.«
Sie fürchtete, ihre Willenskraft könne nachlassen, sie wußte, daß sie sich keine weitere Anstrengung abringen konnte, und wenn sie diese letzte, die sie zum Schreiben ihres Briefes unternommen hatte, nicht nützte, dann würde sie das Spiel endgültig verlieren. Wahrscheinlich hätte sie schon längst mit dem Doktor sprechen sollen. Wieviele Schwierigkeiten wären ihr erspart geblieben! Aber sie hatte den Augenblick, in dem sie hätte handeln müssen, verstreichen lassen, und heute kehrte dieser Augenblick dank eines geheimnisvollen Zufalls noch einmal zurück, sie spürte es, war sich dessen ganz sicher. Es war ihre letzte Chance: ihr ganzes Glück, vielleicht ihr ganzes Leben hingen davon ab, wie sie die nächsten drei, vier Stunden verbrachte. Dieser abergläubische Gedanke traf sie wie die plötzliche Enthüllung eines Geheimnisses. Sie ging schneller und erreichte die Ecke des weißen Hauses, genau dieselbe Stelle, an der sie vorhin gestanden hatte, als Marie Maurecourt die Tür öffnete. Sie lehnte sich gegen die Mauer.
Wie lange würde sie warten müssen? Woher sollte sie wissen, ob er an diesem Nachmittag das Haus verließ? Diese Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, ohne daß irgend etwas in ihr eine Antwort gab. Sie fühlte sich entschlossen und doch auch gleichgültig. Ihre Augen starrten auf die Kieselsteine zu ihren Füßen; etwas Düsteres schlich sich in ihren Blick. Alle Farbe war aus ihren Wangen gewichen, und ihre Lippen waren fast weiß. Schmerzen in den Schultern zwangen sie, sich wie unter einer Last zu krümmen. Ungefähr zehn Minuten vergingen, ohne daß sie daran dachte, den Kopf zu heben.
Wagengeratter auf der Landstraße ließ sie zusammenzucken. Sie richtete sich auf und warf einen Blick um sich. Nach einer Weile kehrte wieder Stille ein. Es war zu heiß, um auszugehen, die Leute blieben zu Hause. Sie stellte sich ihre Nachbarn vor, die friedlich in ihren Lehnsesseln dösten. Morgen begannen die Ferien. Pariser würden zur Erholung nach La Tour-L'Evêque kommen und die Villen rechts und links der Villa des Charmes beziehen. Grausam wurde Adrienne sich der Einsamkeit bewußt, die ihr Schmerz um sie herum schuf. In diesem Stadtteil, vielleicht in der ganzen Stadt, war sie die einzige, die litt. Überall aßen, arbeiteten, schliefen Männer und Frauen in nahezu ungetrübter Sorglosigkeit; ihre kleinen Ärgernisse zählten nicht. Aber sie, konnte sie essen, schlafen, auch nur eine halbe Stunde Ruhe finden?
Plötzlich stieg Zorn in ihr auf gegen diesen Mann, der nicht kam, so als ob sie mit ihm verabredet sei und er Verspätung habe; es gab Augenblicke, in denen sie nahe daran war, ihn zu hassen. War er nicht schuld an allem, was sie quälte? Der Gedanke war demütigend, daß ihr Glück, ihr Friede in der Hand eines Menschen lagen, den sie ein einziges Mal auf der Straße hatte vorbeifahren sehen.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, er stehe vor ihr und sie könne ihn sehen. Seine schwarzen Augen blickten sie mit einer Mischung aus Zuneigung und
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