Adrienne Mesurat
zeigen mir seinen Brief, und dann sehen wir, was zu tun ist. Aber keine Dummheiten mehr, verstehen Sie?«
Eine gute halbe Stunde verging, bevor der Doktor eintraf. Inzwischen hatte Madame Legras einen Rock und eine Korsage aus weißem Leinen angezogen. Sie verließ das Zimmer, nachdem sie Adrienne ans Herz gelegt hatte, ruhig zu bleiben und sich schlafend zu stellen, falls Maurecourt zufällig doch darauf dringen sollte, sie zu sehen. Noch auf der Treppe öffnete sie den Briefumschlag, den Adrienne ihr anvertraut hatte, las den Inhalt, zuckte die Schultern und klebte den Umschlag sorgfältig wieder zu.
Der Doktor stand mitten im Salon, als Madame Legras in den Raum trat. Sie konnte es sich nicht versagen, wenigstens in Gedanken die Bemerkung zu machen, daß sie sich in seinem Alter nicht geirrt hatte und daß er die Spuren jedes einzelnen seiner fünfundvierzig Jahre im Gesicht trug. Er war größer als sie, ungefähr von Adriennes Statur, aber seine unglaubliche Magerkeit ließ ihn viel höher aufgeschossen wirken als das junge Mädchen. Sein auch an Stirn und Schläfen immer noch schwarzes Haar betonte das Weiß seiner Haut, die nur über den Backenknochen ein wenig Farbe besaß. Er hatte die Augen seiner Schwester, jedoch ohne die beständige Rastlosigkeit ihres Blicks; im Gegenteil, seiner ruhte mit einer Mischung aus Aufmerksamkeit und Sanftheit auf Menschen und Dingen und schien sich nur mit Bedauern von ihnen zu lösen. Schwarze, ein wenig gewölbte Brauen gaben ihm vollends jenes südliche und beinahe fremdländische Aussehen, das auch Marie Maurecourt hatte. Seine Nase war gerade und schmal, nur die Nasenlöcher wirkten etwas zu groß. Auf seinem Mund mit den dünnen, leicht geschwungenen Lippen lag ein schwaches Lächeln, das nie völlig verschwand und ein Ausdruck ungewöhnlicher Güte zu sein schien. Mit einer offenbar vertrauten Bewegung strich er sich mit der Hand über das Kinn. Er war in Schwarz gekleidet und trug eine Weste, deren Falten und Stopfstellen, so geschickt sie auch ausgeführt waren, ihr Alter recht deutlich verrieten, auch wenn sie von tadellosem Weiß war.
»Herr Doktor«, sagte Madame Legras und wies auf einen Sessel.
»Madame«, sagte er, ohne sich zu setzen, »ich nehme an, es handelt sich um etwas Dringendes. Das hat man mir wenigstens zu verstehen gegeben.«
»Es handelt sich um etwas Dringendes«, wiederholte Madame Legras mit übertriebener Wichtigkeit. »Aber bitte, setzten wir uns doch.«
Sie setzten sich. Madame Legras kreuzte Füße und Hände und fuhr mit würdevoller Stimme fort:
»Es handelt sich um Mademoiselle Mesurat, Herr Doktor. Sie wollte mich heute gegen zwei Uhr besuchen, als sie auf dem Rasen bewußtlos zusammenbrach. Mein Zimmermädchen und ich mußten ihr ein feuchtes Tuch auf die Schläfen legen, ihr die Wangen…«
»Wie lange hat die Ohnmacht gedauert?«
»Vier oder fünf Minuten. Als ich Mademoiselle Mesurais Kleider ein wenig lockerte, fiel ein Brief aus ihrer Korsage. Hier ist er, Herr Doktor. Auf dem Umschlag stehen Ihr Name und Ihre Adresse.«
Er riß den Brief auf und las. Madame Legras hüstelte und sah auf ihre Schuhspitzen; nach einer Weile blickte sie verstohlen auf und beobachtete das Gesicht des Doktors, der die Stirn runzelte.
»Er braucht aber lange«, dachte sie. »Will er ihn auswendig lernen?«
»Madame«, sagte Maurecourt plötzlich, während er den Brief zusammenfaltete, »gestatten Sie mir ein oder zwei Fragen?«
»Aber selbstverständlich, Herr Doktor«, antwortete Madame Legras und hüstelte wieder.
»Wissen Sie, ob es das erste Mal ist, daß Mademoiselle Mesurat einen solchen Schwächeanfall erleidet?«
»Hier bei mir, ja. Ob anderswo, weiß ich nicht. Sie hat nie über ihr Befinden gesprochen. Ich nahm an, sie sei gesund.«
»Ging es ihr besser, als Sie sie allein ließen?«
»Gerade eben? Da schlief sie.«
»Hat sie erbrochen?«
»Nein.«
»Hatte sie Fieber?«
»Auch nicht.«
»Ich werde sie morgen besuchen, Madame. Hätten Sie die Güte, ihr das zu sagen, wenn sie aufwacht?«
Er erhob sich und blieb unschlüssig stehen.
»Madame«, sagte er, »da ist noch eine Frage, und ich müßte mir Vorwürfe machen, wenn ich sie Ihnen nicht stellte, denn sie scheint mir für Mademoiselle Mesurais Gesundheitszustand ebenfalls wichtig.«
»Ich bin gerne bereit, Ihnen zu antworten, Herr Doktor«, erwiderte Madame Legras in einem den Umständen angemessenen Ton.
»Kennen Sie Mademoiselle Mesurat, kennen Sie sie
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