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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Ihres Vaters noch viel unglücklicher sind?«
    Sie zuckte zusammen.
    »Ich weiß auch«, fuhr er fort, »daß Ihr Vater Ihnen unter besonders schrecklichen Umständen entrissen wurde, Mademoiselle. Es ist ganz natürlich, wenn man einem so heftigen Schmerz für einige Zeit nachgibt. Nicht wahr?«
    Er blickte ihr gerade in die Augen; das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden. Sie konnte diesem Blick nicht standhalten und wandte den Kopf ab. Sie zitterte am ganzen Körper so sehr, daß sie sich auf die Armlehne stützen mußte. Das entsetzliche Gefühl, wie ein Tier in der Falle zu sitzen und nicht fliehen zu können, packte sie wieder; Schweißtropfen perlten unter ihren Haaren hervor und rannen ihr langsam über die Haut. Auf einmal hörte sie ihre Stimme, ihre eigene Stimme, die etwas sagte:
    »Ja«, antwortete sie dem Doktor, »das ist ganz natürlich.«
    »Wirklich, Mademoiselle«, sagte er noch, »hingen Sie denn so sehr an Ihrem Vater? Gab es nicht manchmal kleine Unstimmigkeiten zwischen ihnen?«
    Sie sah Maurecourt an, der völlig unbewegt blieb.
    »Warum fragen Sie mich das?« sagte sie mit erstickter Stimme.
    »Um Ihnen zu helfen, mir die Wahrheit zu sagen«, antwortete er, ohne daß sein Gesicht sich veränderte.
    Mit einer unwillkürlichen Bewegung verschränkte Adrienne die Finger auf dem Tisch und hielt den Atem an. Ihre Zunge klebte trocken und rauh am Gaumen.
    »Was wollen Sie damit sagen?« stotterte sie nach einer Weile.
    Er antwortete nicht. Da spürte sie etwas Tobendes in ihrer Brust hochsteigen; ihr war, als pochten alle ihre Eingeweide wie das Herz. Plötzlich sprang sie auf und griff sich mit beiden Händen an den Hals.
    »Warum schauen Sie mich an?« sagte sie. »Was haben Sie vor?«
    Ihre Stimme klang wie ein erstickter Schrei. Und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck im Gesicht, der an ein Kind erinnerte, wenn es seine Hausaufgabe hersagt, setzte sie hinzu:
    »Papa ist die Treppe hinuntergestürzt.«
    »Konnte er denn nichts sehen?« fragte Maurecourt halblaut.
    »Nein«, antwortete sie, nun ruhiger. Sie schien nachzudenken, dann fuhr sie fort, wie im Traum:
    »Es war finster. Ich hatte die Tür zu meinem Zimmer geschlossen, wo die Lampe brannte. Plötzlich standen wir beide im Dunkeln, oben an der Treppe.«
    Sie verstummte.
    »Und dann…?« fragte Maurecourt.
    »Ich habe ihn an den Schultern gestoßen«, fügte sie mit kaum hörbarer Stimme hinzu.
    Es blieb lange still. Seit einigen Minuten hatte sie keine Angst mehr. Alles in ihr war wie abgestorben. Sie spürte nur noch, daß etwas Unerhörtes geschah. Vor ihren Augen verschwamm alles, sie bildete sich ein, Kopf und Schultern des Doktors seien mit einem dicken schwarzen Band umwickelt und eine immer tiefere Dunkelheit erfülle den Raum. Es war, als ob sie gleich einschlafen würde, aber sie blieb stehen, reglos.
    »Warum haben Sie Ihren Vater umgebracht?« fragte Maurecourt nach einer Weile.
    Der Boden unter ihren Füßen wankte. Diese Worte, mit einer härteren und lauteren Stimme gesprochen, hatten sie aus der Benommenheit gerissen, in die sie sich gleiten fühlte. Ein Schrei kam aus ihrer Kehle, sie machte einen Schritt auf den Doktor zu und fiel vor ihm auf die Knie. Er rührte sich nicht.
    »Wer hat es Ihnen gesagt?« stöhnte sie. »Diese Frau, diese Madame Legras.«
    »Ich weiß es schon lange«, antwortete er, »seit dem Morgen, an dem ich gekommen bin, den Eintritt des Todes festzustellen.«
    Sie unterdrückte einen Schrei:
    »Sie werden mich anzeigen!«
    »Sie anzeigen? Als ob Sie nicht schon genug gestraft wären! Stehen Sie auf«, fügte er hinzu… Und während er selbst aufstand, beugte er sich zu ihr hinunter und sagte noch einmal in gebieterischem Ton:
    »Stehen Sie auf, Mademoiselle.«
    Sie gehorchte. Ein nervöses Zittern hatte ihre Hände und ihren Kopf erfaßt; sie schien nein zu sagen. Ihre Augen mit den schwarzen Schatten waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Vorsichtig legte er seine Finger auf den Arm des jungen Mädchens und sagte mit ruhigerer, aber genauso fester Stimme:
    »Jetzt gehen wir in das Zimmer Ihres Vaters hinauf.«
    Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die einem Lächeln glich, aber durch den tragischen Ausdruck in ihrem Blick grauenvoll aussah.
    »Fürchten Sie sich nicht«, fuhr er ohne Eile fort, »ich sage Ihnen noch einmal, ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Sie sind sehr jung, Sie sollen glücklich sein, aber Sie werden es nie sein, solange Sie sich nicht von bestimmten

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