Adrienne Mesurat
zuschlagen, drehte sich um und sah es mit einem Ausdruck an, der sich nicht wiedergeben läßt. Ihre Augen schienen geweitet; auch sie war ganz weiß, fast leichenblaß, und ihre Lippen, leicht geöffnet, wie zum Schreien bereit, hatten keine Farbe mehr und unterschieden sich kaum vom übrigen Gesicht. Doch sie wandte sich wieder dem Haus zu und ging den Weg hinauf, dessen Kies unter ihren Schritten knirschte.
Alles in ihren Bewegungen drückte Entschlossenheit aus. Sie ging schnell; als sie jedoch den Fuß auf die erste Stufe der Außentreppe setzte, schien es, als ob sie von einer plötzlichen Schwäche übermannt würde und jeden Augenblick nach hinten fallen könnte; aber nichts dergleichen geschah, sie senkte bloß den Kopf, raffte ihren Rock, stieg die sechs Stufen hinauf, öffnete die Tür und verschwand im Haus.
Die Streichhölzer waren in der Küche. Sie schritt sehr aufrecht, schlug dabei mit der linken Hand gegen die Wand und fand so den Weg bis ans Ende des Flurs. Namenloses Entsetzen belauerte sie, wartete auf den Augenblick, in dem sie sich plötzlich ergeben, im Dunkeln schreien würde, vom Grauen der Finsternis besiegt. Am Ende des Flurs begann sie zu laufen, denn sie verstand nicht mehr, was sie um diese schauerliche Stunde in das Haus geführt hatte. Schon war sie in der Küche, stieß gegen die Stühle, an deren Platz sie sich nicht erinnerte, als sie spürte, daß ihre Angst wuchs, daß der Schrecken sie überwältigen würde, bevor sie die Gaslampe anzünden konnte. Ein paar Sekunden kämpfte sie im Finstern dagegen an, halb wahnsinnig, fand endlich die Streichholzschachtel, die sie nur mit Mühe öffnete, so sehr zitterten ihre Hände.
Als sie das Licht aufleuchten sah, blickte sie verstört um sich. Dann nahm sie ihren Hut ab und setzte sich an den Tisch, unter die Gaslampe, deren leises Zischen die Stille ausfüllte. Ihre Augen starrten auf das abgenutzte Muster des Wachstuches, in das Schüsseln und Teller Kreise gezeichnet hatten.
Und plötzlich gab sie etwas Unwiderstehlichem nach, ließ sich vornüber fallen, legte den Kopf auf die Arme und verbarg ihr Gesicht.
Eine lange Viertelstunde verstrich, bevor sie sich entschließen konnte, in ihr Zimmer zu gehen.
VI
Sie stand mitten im Salon, einen Lappen in der Hand, und blickte traurig auf diese Möbel, die sie unter dem Zwang einer Gewohnheit, fast eines körperlichen Bedürfnisses, täglich abstaubte. Wie tags zuvor fühlte sie sich in manchen Augenblicken von einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber allem erfüllt, was der Tag ihr bringen mochte. Es schien, als ob ihr Herz, vom Leiden erschöpft, nicht mehr fähig wäre, irgend etwas zu empfinden. Ihre Ängste, ihre Erregung der letzten Nacht kamen ihr absurd vor, jetzt war sie ruhig, aber diese Ruhe war furchtbar, denn sie entsprang einzig und allein dem Ekel.
Während sie den Kaminaufsatz abstaubte, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Haut hatte keine gesunde Farbe. Zwischen ihren Brauen hatte sich eine Furche gebildet, die sie überwachte, weil sie seit einiger Zeit tiefer wurde, ein feiner senkrechter Strich, wie mit dem Fingernagel eingeritzt. Sie fragte sich, wie sie ihn wegbringen oder wenigstens verhindern könnte, daß er noch auffälliger wurde, und plötzlich fiel ihr die Nichtigkeit dieser Sorge auf. »Wozu denn?« fragte sie sich. »Was würde das ändern?«
Sie setzte ihren Rundgang fort, unterzog alle Nippfiguren, die auf den Tischen standen, einer Prüfung, und wischte mit ihrem Lappen über die Stuhllehnen.
»Heute kommt er vielleicht«, dachte sie, »Madame Legras hat es gesagt.«
Aber diese Vorstellung, die sie vor vierundzwanzig Stunden noch bezaubert hätte, ließ sie nun mehr oder weniger kalt. Das war seltsam. Auch wenn sie sich diese Worte noch so oft wiederholte, sich das Gesicht von Denis Maurecourt noch so oft ins Gedächtnis rief, sie fand keinen Grund, darüber in Aufregung zu geraten, glücklich oder unglücklich zu sein. Ein merkwürdiger Gedanke ging ihr durch den Kopf. Lohnte sich das alles? War es möglich, daß Madame Legras recht hatte und der Doktor ihr Interesse gar nicht verdiente? Und einen Augenblick lang empfand sie bittere und tiefe Enttäuschung.
Madame Legras' Voraussage ging jedoch in Erfüllung, und kurz vor zehn Uhr betrat Denis Maurecourt den Salon. Zunächst erkannte Adrienne ihn nicht. Er hatte sich nicht melden lassen und stand eine Sekunde vor ihr, ohne etwas zu sagen. Sie sah ihn an, ihr Herz krampfte sich jäh
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