Adrienne Mesurat
hereinlassen. Haben Sie hier Angst, mit mir?«
Der vertrauensvolle Blick, mit dem sie ihn ansah, verklärte ihr Gesicht.
»Nein«, sagte sie halblaut.
Er machte eine Gebärde.
»Na, sehen Sie! Sie sind geheilt. Da ist nichts mehr, keine Schrecken, keine Gespenster. Sie haben sich dagegen gewehrt, an Ihren Vater zu denken, weil sie Angst vor ihm hatten, nicht wahr?«
Sie faßte sich mit der Hand an die Stirn, als fürchte sie sich vor dem, was Maurecourt sagen würde. Er las die Unruhe in ihren Augen und fügte mit schlecht verhohlener Ungeduld hinzu:
»Sie bilden sich Dinge ein, die es nicht gibt. Ihr Vater ist nicht mehr in einer Welt, wo er Sie quälen kann. In diesem Zimmer, in diesem Haus ist nichts. Glauben Sie mir?«
Er griff nach ihrer Hand.
»Ich glaube, was Sie sagen«, antwortete sie.
Er behielt ihre Hand in der seinen und redete weiter, aber sie verstand nicht, was er sagte. Diese Berührung wühlte sie auf. Sie begann, an allen Gliedern zu zittern und spürte, daß ihre Kräfte sie gleich verlassen würden. Maurecourts Augen, die sie unverwandt anblickten, warfen ihr eigenes Bild zurück. Sie sah, wie sich die Lippen des Doktors bewegten. Plötzlich fiel sie mit einem Aufschrei vor seinen Füßen nieder:
»Verlassen Sie mich nicht!« flehte sie.
Tränen schössen ihr aus den Augen, sie wurde rot und sprach hastig weiter:
»Sie wissen nicht, wie glücklich ich seit einem Augenblick bin. Seit Sie hier sind. Ich kann Ihnen gar nicht sagen wie. Wenn Sie mich verlassen, werde ich verrückt, dann sterbe ich. Monatelang denke ich schon an Sie. Ich wußte nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Ich habe Ihnen mehrmals geschrieben. Seit dem Tag, als ich Sie auf der Landstraße gesehen habe.«
Er beugte sich zu ihr hinunter und umfaßte ihre Handgelenke; das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen und rötete seine Wangen:
»Schweigen Sie!« stammelte er. »Sie wissen nicht, was Sie sagen.«
Sie schüttelte heftig den Kopf und fuhr fort:
»Sie können mich nicht am Sprechen hindern. Es ist nicht meine Schuld, wenn ich Sie liebe.«
»Sie lieben mich nicht. Das ist unmöglich.«
Er ließ ihre Hände los und trat von ihr weg, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen. Sie stand auf.
»Warum ist es unmöglich?« rief sie.
»Aber, Mademoiselle, das macht doch keinen Sinn«, begann er von neuem. »Denken Sie an alles, was uns trennt. Mein Alter zunächst. Wissen Sie wie alt ich bin? Ich bin fünfundvierzig, um siebenundzwanzig Jahre älter als Sie. Haben Sie sich das überlegt?«
Sie stützte sich auf den Lehnsessel.
»Das ändert nichts«, stotterte sie.
»Finden Sie?« sagte Maurecourt etwas lebhafter. »Ach! Ich mag Ihnen vielleicht grausam erscheinen, aber ich darf nicht anders mit Ihnen sprechen. Hören Sie mir zu. Sie können glücklich werden, sehr glücklich. Wollen Sie das nicht? Aber dafür müssen Sie zuerst begreifen, daß jedes wirklich tiefe und dauerhafte Glück wenigstens zur Hälfte auf Vernunft beruht. Wenn Sie aber an mich gedacht haben als … als Ehemann, oder? so ist das wahrhaftig das Unvernünftigste, was man sich vorstellen kann. Dieser Gedanke ist Ihnen nur gekommen, weil Sie so einsam leben. Wenn Sie jedoch unter Leute gehen, sich mit einigen Familien in der Stadt anfreunden würden… Ihr Vater hatte doch Freunde in La Tour-PEvêque? Versuchen Sie, diese Beziehungen wiederanzuknüpfen. Ich helfe Ihnen dabei. Sie werden sehen. Es gibt gute Partien in La Tour-l’Evèque…«
Adrienne blickte ihn an.
»Gute Partien!« wiederholte sie gequält.
»Natürlich«, sagte er. »Ich könnte Ihnen welche nennen.«
»Ich will sie alle nicht«, entgegnete sie.
»Warum nicht?«
»Weil ich nur Sie lieben kann.«
Er faltete die Hände und redete behutsam weiter:
»Diese Idee haben Sie sich eines Tages in den Kopf gesetzt, als sie einsam waren, als die Langeweile Sie quälte. Sie hätten ebensogut jemand anders lieben können. Nehmen Sie einmal an, ein anderer als ich wäre im Wagen an Ihnen vorübergefahren, an dem Tag, von dem Sie mir vorhin erzählt haben, ein junger Mann vielleicht…«
»Warum soll ich das alles annehmen? Selbst wenn es stimmt, was Sie sagen, ändert sich doch nichts.«
Und plötzlich spürte sie Groll gegen diesen Mann, der sie so unglücklich machte.
»Ich habe Sie mir nicht ausgesucht«, sagte sie. »Sie haben recht. Aber ich kann nicht länger so leiden, für nichts und wieder nichts, das ist nicht möglich. Sie müssen mich lieben. Sie müssen Mitleid mit mir
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