Adrienne Mesurat
Ungewissen Licht der Öllampe. Es waren zu viele, und weil sie an zu viele Menschen vermietet worden waren, schienen sie niemandem zu gehören. »Warum kann ich nicht zu Hause schlafen?« fragte sie sich noch. »Was habe ich denn nur?« Ihr war, als dringe diese Frage bis auf den Grund ihrer Verzweiflung, und sie wiederholte sie laut, fast ärgerlich: »Was habe ich denn nur?«
Sie spürte die kühle Luft auf ihren nackten Füßen und erschauerte. Der Gedanke, die Lampe auszublasen, sich wieder auf dieses schmale Kanapee zu legen, kam ihr unmöglich vor. Im Dunkeln würde sie Angst haben. Zu viele Dinge lauerten ihr auf, bereit, sie zu bedrängen, sobald es finster war, zu viele Erinnerungen, die ungeduldig darauf warteten, sich wieder in ihr Gedächtnis einzuschleichen, zu viele Gewissensbisse, zu viele Schuldgefühle, zu viele Gespenster, gegen die sie kämpfen mußte.
Sie schaute auf die brennende Lampe mit ihrem Schirm aus Musselinplissee und einer Rüsche, deren frivoles Aussehen in dieser nächtlichen Stunde seltsam und beinahe unheimlich wirkte. Mücken, vom Licht geweckt, flatterten über dem Glas, bis die Hitze der gelben Flamme ihnen die Flügel versengte. Auf dem kleinen Tisch, rund um die Lampe, lagen verschiedenartig geformte Muscheln neben Nippes aus Perlmutt; Adrienne betrachtete sie mit einer Neugierde, in die sich Ekel mischte. Ihre Phantasie zeigte ihr, gegen ihren Willen, Madame Legras' kurze Finger, die diese Döschen aufmachten und die Brieföffner drehten und wendeten.
Nach und nach kam ihr klarer zu Bewußtsein, was in den letzten zwei Tagen geschehen war. Sie hatte sich mit Léon-tine Legras gezankt, sie hatte sie beschimpft, dann hatte sie sich wieder mit ihr versöhnt, und nun saß sie in ihrem Salon. Obwohl sie genau wußte, was die Maurecourts von dieser Frau hielten, von der Legras, wie Marie Maurecourt sich ausdrückte. Zwischen ihnen und ihr mußte sie sich entscheiden, das wußte sie genau, und was tat sie? Sie richtete sich bei Madame Legras ein, bat sie, an ihrer Stelle mit dem Doktor zu sprechen, machte sie zu ihrer Vertrauten, vor den Augen der Maurecourts und folglich vor aller Augen. Der Gedanke jagte ihr Schrecken ein. Mit einem Schlag kam ihr der Verdacht, daß sie nicht immer so handelte, wie sie es wollte. In ihr steckte etwas, was den Befehlen ihrer Vernunft nicht gehorchte. Es war, als sei sie nichtsahnend in eine Falle getappt. Sie hatte das Gefühl, ihr Körper erstarre zu Eis.
Sie zögerte einen Augenblick, dann sprang sie auf, suchte nach ihren Sachen und kleidete sich hastig an; ihre Hände zitterten, als sie die Strümpfe hochzog, und es gelang ihr nicht, die Bluse zuzuhaken, die Stiefel bis hinauf zu knöpfen. Sie kämmte sich mit den Fingern, so gut es eben ging. Über der Uhr auf dem Kamin sah sie ihr wirres Haar, ihre entsetzten Augen mit den dunklen Schatten, die das schlechte Licht der Lampe wie zum Scherz noch übertrieb. Mit einemmal graute ihr vor diesem kleinen Salon mit seinen Möbeln, die so vielen Leuten gehört hatten, seinen zwielichtigen Möbeln. Sie lief hin und her, suchte die Handtasche, die sie am Vortag bei sich gehabt hatte. Sie fand sie am Boden, hinter dem Kanapee, auf dem sie einen Teil der Nacht verbracht hatte; dann ging sie.
An der Wand entlangtastend, folgte sie einem Flur bis zur Haustür, die in den Garten führte; der Schlüssel steckte, sie drehte ihn behutsam herum, öffnete die Tür und war auf der Außentreppe. Auf Zehenspitzen überquerte sie einen Weg und ging dann, um nicht gehört zu werden, über den Rasen weiter. Unter einem Kastanienbaum blieb sie stehen: hier hatte sie früher immer gesessen, wenn sie Madame Legras ihren täglichen Besuch abstattete und wenn sie sich anhörte, wie diese ihre hinterlistigen Fragen über Monsieur Mesurais Tod stellte. Eine Sekunde lang versetzte die Erinnerung an diese Ängste sie in Aufruhr. Dann faßte sie sich wieder und lief bis ans Gartentor, das zum Glück nur mit einem Riegel verschlossen war.
Nun stand sie auf der Straße. Im Schein des Vollmondes lag die Straße so weiß da, als habe es geschneit. Manchmal wiegten die Bäume unter einem leichten, geräuschlosen Windstoß ihre Wipfel sachte wie in einem Traum, und die Blätter schimmerten metallisch, wenn fahles Mondlicht auf sie fiel. Sie blieb einen Augenblick stehen, vor Erschöpfung, nichts anderes ließ sie zögern. Mit schnellen Schritten ging sie dann über die Straße und öffnete das Gartentor.
Sie hörte es hinter sich
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