Adrienne Mesurat
Vorstellungen befreit haben. Sie müssen mir jetzt gehorchen. Gehen wir in das Zimmer.«
»Die Tür ist verschlossen«, antwortete sie und senkte den Kopf. »Ich habe es seit zwei Monaten nicht betreten.«
»Wo ist der Schlüssel zu dem Zimmer?«
Adrienne schwieg. Er drängte behutsam.
»Ich will den Schlüssel, Mademoiselle. Bitte geben Sie ihn mir.«
Wie unter einem plötzlichen Zwang ging sie zum Sekretär, öffnete eine Schublade und nahm den Schlüssel heraus. Sie hielt ihn dem Doktor hin.
»Führen Sie mich, Mademoiselle«, sagte er. »Stützen Sie sich auf meinen Arm.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann schob sie ihren Arm unter den des Doktors. Alles tanzte vor ihren Augen, sie begriff nicht, woher sie die Kraft nahm, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aufrecht zu gehen. An ihrem nackten Arm spürte sie die Berührung mit einem rauhen Stoff, und als sie den Blick senkte, sah sie ihre weiße Hand auf dem schwarzen Ärmel von Denis Maurecourt. In diesem Augenblick loderte etwas wie unbändiges Glück in ihrem Schrecken auf. Es war ein so plötzliches Gefühl, daß sie sich beherrschen mußte, nicht zu schreien. Tränen traten ihr in die Augen. An der Tür des Salons zog sie ihren Arm zurück, ging voraus und hakte sich dann wieder beim Doktor ein, um die Treppe hinaufzugehen. Mit der freien Hand hielt sie sich so krampfhaft am Geländer fest, daß das Holz unter ihrem Griff ächzte; ihre Füße stolperten auf den Stufen. Sie wagte weder, Maurecourt anzuschauen, noch zu glauben, daß er wirklich neben ihr herging, obwohl sie seinen Atem hörte und mit gesenktem Blick die Hand des Doktors und seine schwarzen, staubigen Schuhe sah.
Als sie den Treppenabsatz im zweiten Stock erreichten, stieg die Angst von vorher wieder in ihr hoch, und sie blieb stehen, ließ Maurecourts Arm los. Er nahm ihre Hand, drückte sie fest.
»Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« fragte er.
Sie senkte den Kopf unter diesem Blick, der auf ihrem Gesicht ruhte, und brach plötzlich in Schluchzen aus. Er ließ ihre Hand los. Sie hörte, wie er den Schlüssel im Schloß umdrehte und die Tür aufschob.
»Kommen Sie«, sagte er von drinnen.
Adrienne überwand sich und ging hinein.
Monatelang war sie nicht mehr in diesem Zimmer gewesen, denn selbst vor Monsieur Mesurats Tod hatte sie es nicht betreten, und seither hütete sie sich davor, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Einen Augenblick stand sie in der Tür und sah zunächst nichts, weil die Fensterläden geschlossen waren. Der Geruch von Staub und Moder stieg ihr in die Nase. Sie schloß die Augen und lehnte sich an den Türrahmen, während der Doktor Fenster und Läden öffnete.
»Was haben Sie?« fragte er, als er sich umdrehte. »Setzen Sie sich.«
Und er nahm sie an der Hand, um sie zu einem Lehnsessel zu führen. Sie setzte sich und blickte umher. Die Möbel in den anderen Räumen des Hauses hatte sie so oft gesehen, daß sie keinen Eindruck mehr auf sie machten, vielleicht wäre es ihr sogar schwergefallen, sie genau zu beschreiben, und es war fast, als sehe sie sie nicht mehr. Sie wußte nicht mehr, ob sie schön waren oder häßlich, es waren die Möbel, so wie für einen Wolf oder einen Fuchs der Wald, ohne daß es eine Erklärung dafür gäbe, der Wald ist. Aber das Zimmer ihres Vaters kannte sie viel weniger, und es versetzte ihr einen Schock, das Bett aus Pitchpins und die Stühle mit dem Strohgeflecht zu sehen, die er Jahre hindurch benutzt hatte. Auf unerklärliche Weise, und so lächerlich das auch wirken mag, ähnelten diese Möbel Monsieur Mesurat. Es war, als hätten sie, weil sie ihm so lange gehörten, etwas von seinem Wesen angenommen. Man konnte sich keinen anderen Körper in diesem wuchtigen und gewöhnlichen Bett vorstellen als den seinen, und es wäre einem ganz natürlich erschienen, wenn seine geäderte Hand, nur seine Hand, sich plötzlich auf die Rückenlehne eines dieser Stühle gelegt hätte. Wenn er noch irgendwo auf Erden war, dann war er hier.
Adrienne erschauerte.
»Warum haben Sie mich hierher gebracht?« fragte sie.
»Damit Sie lernen, keine Angst vor diesem Zimmer zu haben«, antwortete Maurecourt. »Sie haben es zwei Monate lang verschlossen gehalten. Das war ein Fehler. Was es in Ihren Augen so grauenhaft gemacht hat, ist nur die Tatsache, daß Sie nie hineingegangen sind. Und genauso gibt es in Ihnen geheime Räume, die Sie nicht zu betreten wagen und deren Fensterläden verriegelt sind. Aber Sie müssen helles Sonnenlicht
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