Adrienne Mesurat
zusammen, als müßte das Leben im selben Augenblick aus ihr weichen, dann begriff sie, daß der Doktor zu ihr gekommen war, und sie stieß einen Schrei aus.
»Was wollen Sie?« fragte sie.
Und gleichzeitig dachte sie: »Ich täusche mich, das ist er nicht. Er ist viel kleiner. Sein Gesicht hat keine so frische Farbe.« Aber die Gewißheit, daß sie sich nicht täuschte, war stärker, und sie glaubte, ohnmächtig zu werden.
»Ich vermutete Sie bei Madame Legras«, sagte er, »ich war zuerst bei ihr, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen. Wie haben Sie die Nacht verbracht?«
Adrienne antwortete nicht. Sie konnte ihre Augen nicht von diesem Gesicht losreißen, das sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Sie fühlte eine entsetzliche Scham und zugleich eine übermütige, zügellose Freude, die ihr die Sprache verschlugen. Ohne sich darüber im klaren zu sein, was sie tat, wich sie ein wenig zurück und setzte sich auf das Kanapee. Er blieb einen Augenblick stehen, dann setzte er sich ebenfalls.
»Wenn ich gewußt hätte, daß Ihre Gesundheit angegriffen ist, wäre ich früher gekommen«, sagte er sanft. »Sie hätten mich benachrichtigen müssen, Mademoiselle. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein paar Fragen zu beantworten? Ich muß Bescheid wissen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Schlafen Sie gut?«
Sie überlegte und sagte mit heiserer Stimme: »Nein.«
»Wie lange schon?«
»Ich weiß nicht.« Und sogleich fügte sie hinzu: »Ich kann auf diese Fragen nicht antworten.«
»Ich frage nur, um Ihnen zu helfen, Mademoiselle«, fuhr er im gleichen sanften Tonfall fort.
Sie atmete tief und senkte den Kopf.
»Ich weiß es ja«, sagte sie, als rede sie mit sich selbst. Mit einemmal war ihre Aufregung zu groß und sie konnte sich nicht länger beherrschen. Tränen rannen ihr aus den Augen.
Er wartete ein wenig, bevor er weitersprach:
»Ich verstehe Ihre Schwierigkeiten besser, als Sie denken, Mademoiselle. Es ist sehr schlecht für Sie, so zu leben, wie Sie es tun, ganz allein, ohne jemanden zu sehen. Sie sollten aus dem Haus gehen, unter Menschen kommen. Hüten Sie sich vor der Schwermut.«
»Ich habe keine Lust, aus dem Haus zu gehen…«
Er stand auf und schien nachzudenken. Schließlich trat er vor das junge Mädchen.
»Haben Sie keine Lust, gesund zu werden?«
Sie dachte sofort an ihren Husten und fürchtete, er könne davon wissen.
»Ich bin nicht krank«, antwortete sie lebhaft.
»Das ist Wortklauberei, Mademoiselle. Sie sind nicht glücklich. Spüren Sie nicht, daß das ungefähr das gleiche ist?«
Sie schaute zu ihm hoch.
»Gut«, brachte sie mühsam hervor, »was muß ich tun, um gesund zu werden, wie Sie es nennen.«
»Erlauben Sie mir, Ihnen eine Frage zu stellen?«
Sie nickte.
»Sind Sie fromm?«
Adrienne errötete, sie erinnerte sich an alles, was Madame Legras über den Doktor erzählt hatte, und fürchtete, diesem Mann zu mißfallen, wenn sie ihm gestand, daß sie an nichts glaubte. Ein heftiges Verlangen überfiel sie, so zu sein wie er, ihm in allem zu gleichen. Nachdem er einen Augenblick auf ihre Antwort gewartet hatte, fuhr Maurecourt fort, als habe er sie nichts gefragt:
»Sie sind sehr nervös, Mademoiselle. Sie versinken langsam in Schwermut, und wenn Sie sich nicht jetzt dagegen wehren, wird es Ihnen vielleicht nie gelingen, davon loszukommen. Sie müssen unter Leute gehen, sich vor allem jemandem anvertrauen, viel mehr, als Sie es tun. Es gibt Dinge in Ihnen, die nicht da sein sollten und die nur deshalb so hartnäckig wuchern können, weil Sie sich abkapseln. Sie haben Gedanken für sich allein behalten, die schließlich wirkten wie Gift.«
Sie sah erschrocken aus.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie.
»Daß Sie sich zwingen müssen, anders zu leben«, erwiderte er knapp. »Sie werden nie glücklich sein, wenn Sie sich nicht entschließen, aus dem Haus zu gehen, Leute hier in der Stadt kennenzulernen, sich eine Beschäftigung zu suchen. Was tun Sie den ganzen Tag?«
Sie zuckte leicht die Schultern, ohne zu antworten. Nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, setzte er sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch und begann zu sprechen, als habe er sich plötzlich eine neue Vorgehensweise überlegt und wolle es mit einer neuen Taktik versuchen.
»Verheimlichen Sie mir nichts, Mademoiselle. Denken Sie immer daran, daß ich gekommen bin, um Ihnen zu helfen, ich kann fast sagen, um Sie zu retten, ja, Sie zu retten. Stimmt es denn nicht, daß Sie seit dem Tod
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