Adrienne Mesurat
die Linden im Garten auszulichten; das dauerte zwei Nachmittage. Man kann sich wohl denken, daß Monsieur Mesurat nichts von all dem versäumte und sogar bereit war, seine spätnachmittäglichen Spaziergänge ausfallen zu lassen, um diese Geschäftigkeit in allen ihren Erscheinungsformen verfolgen zu können. Germaine bekundete für das, was auf der anderen Straßenseite geschah, nicht weniger Interesse und hatte, auf ihrem Kanapee ausgestreckt, auch den besten Platz, um alles genau zu sehen.
Nur Adrienne machte einen teilnahmslosen Eindruck. Nachdem sie Madame Legras' Ankunft herbeigesehnt, gefürchtet, erwartet hatte, war ihr dieses Ereignis genau in dem Augenblick, in dem es eintreten mußte, auf einmal völlig gleichgültig. Eine wehmütige Trägheit hatte sie erfaßt. Sobald sie konnte, ging sie in ihr Zimmer hinauf und legte sich zum Schlafen auf das Bett oder gab sich, wenn der Schlaf nicht kommen wollte, willenlos langen Träumereien hin. Ihr schien, daß sie sozusagen den tiefsten Punkt ihrer Hoffnungslosigkeit erreicht hatte, als sie feststellen mußte, daß ihr Vater das Gartentor jeden Morgen abschloß. Es war eine Frage körperlicher Überlegenheit. Er war stärker als sie. Konnte sie ihm den Schlüssel entreißen? Und durch einen seltsamen Widerspruch verschaffte ihr das Wissen, machtlos zu sein, so etwas wie ein Gefühl der Zufriedenheit. Was hätte sie getan, wenn sie frei gewesen wäre? Wie früher wäre sie um dieses weiße Haus geschlichen, hätte ihren Schmerz durch die Rue Carnot und bis hinauf zur großen Landstraße getragen, von der trügerischen Hoffnung verlockt, dort dem Doktor zu begegnen. Jetzt sperrte man sie ein, ließ sie nicht aus den Augen. Vielleicht war es weniger schrecklich, auf diese Weise in einer endlosen Langeweile zu versinken, als wie im Fieber von einem Augenblick ängstlicher Freude in grausamsten Kummer zu stürzen. Sie war müde geworden.
Jeden Abend spielte sie dieses Kartenspiel, das ihr Vater ihr mit so großer Mühe beigebracht hatte. Der Tag war inzwischen fern, an dem sie in einem Anfall von Panik die Karten auf das runde Tischchen geworfen und erklärt hatte, daß sie nicht spielen wolle. Ohne Mißmut nahm sie nach dem Abendessen ihren Platz zwischen ihrem Vater und ihrer Schwester ein. Man hätte meinen können, dieses Mädchen habe, trotz seiner energischen Gesichtszüge, den Entschluß gefaßt, sich den Regeln des Hauses in allem zu fügen, um einerseits der Langeweile und andererseits einem brutalen Zwang, der ihm angst machte, zu entkommen. Es war besser, Karten zu spielen, als in seinem Zimmer zu weinen und zu gähnen oder den Zorn eines herrischen Alten und einer verbitterten Kranken ertragen zu müssen.
»Ihnen ähnlich werden«, sagte Adrienne sich, »das ist der beste Weg, um meinen Frieden zu haben.«
Monsieur Mesurat, dem diese Veränderung nicht entging, beglückwünschte sich dazu, wenn er mit Germaine alleine war. Seine Ruhe wurde nicht gestört. Was wollte er mehr? Germaine jedoch schenkte Adriennes Unterwerfung keinen Glauben. Mißtrauischer als ihr Vater, verdächtigte sie ihre Schwester, irgendwelche Pläne zu verheimlichen, und neugieriger als er, verzieh sie dem jungen Mädchen nicht, den Namen des Mannes, den es liebte, nie verraten zu haben. Was für ein köstliches Schauspiel wäre diese tägliche Kartenrunde für einen Beobachter gewesen! Diese drei Personen saßen um eine Lampe vereint, doch wieviel Eigennutz trennte sie, wieviel feindselige Gedanken verbargen sie in ihren Herzen? Der Vater, der um den Frieden und die Gewohnheiten in seinem Haus fürchtete, die eine Tochter von Liebe, die andere von Eifersucht und Neugier geplagt. Und es schien, als würde das alles auf ganz anschauliche Weise durch dieses Kartenspiel dargestellt, das darin bestand, dem Angriffsplan des Tischnachbarn zuvorzukommen, sein Vorhaben zu vereiteln und ihn schließlich zu bezwingen. In der herrschenden Stille fielen die Karten mit einem kurzen, harten Geräusch auf die Marmorplatte, und von Zeit zu Zeit verkündete eine Stimme ein Ergebnis oder gab ein knappes Urteil ab. Fast immer trug Monsieur Mesurat, der in diesen Dingen äußerst erfahren war, letztendlich den Sieg davon, trotz der gereizten Anstrengung Germaines und den Bemühungen Adriennes, die beim Spielen leicht in Feuer geriet.
Man muß abseits von Paris leben, um die Macht der Gewohnheit zu verstehen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß
Adrienne sich um so leichter an ihr Leiden gewöhnt
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