Adrienne Mesurat
ließen, entspannten sich, und alle beide stießen im selben Augenblick ein »Ach je!« hervor. Der Alte wich zurück und blickte Germaine bestürzt an.
»Wie hast du denn das angestellt?« fragte diese mit stockender Stimme. »Das ist ja Wahnsinn. Schnell, Jodtinktur und eine Mullbinde«, rief sie ihrem Vater zu. »In meinem Zimmer, im Schrank.«
Monsieur Mesurat verschwand. Germaine holte eine Serviette aus der Anrichte und wickelte sie ihrer Schwester um die Arme, doch als der Stoff die Wunden berührte, schrie Adrienne auf und versuchte, sich diesen provisorischen Verband herunterzureißen. Der Anblick ihres Blutes hatte sie völlig aus der Fassung gebracht, und ihr war, als verliere sie den Verstand. Sie sank auf einen Stuhl.
»Willst du mich wohl machen lassen!« sagte Germaine und hob die rotgefleckte Serviette wieder auf.
»Laß den Doktor rufen.«
»Sei still. Nimm die Arme hoch«, befahl Germaine.
Adrienne gehorchte. Sie war sehr blaß und fragte sich verschwommen, warum sie sich verletzt hatte. Hoffte sie denn wirklich, man würde wegen ein paar Schnittwunden an den Armen einen Arzt kommen lassen? Welche Verwirrung mußte in ihrem Kopf geherrscht haben, daß sie auch nur eine Sekunde daran geglaubt hatte! Und es war so einfach gewesen, den Doktor, als er vorüberging, auf sie aufmerksam zu machen. Er wäre stehengeblieben, sie hätte irgend etwas vortäuschen können, einen Anfall; sie hätte die Hand an den Kopf gepreßt und einen Schrei ausgestoßen…
Monsieur Mesurat tauchte mit einem Fläschchen und einer kleinen weißen Binde in der Hand wieder auf.
»Gib her«, sagte Germaine.
Sie nahm das Fläschchen und bestrich mit einem in der Verschlußkappe angebrachten Pinsel die Wunden Adriennes, die laut aufschrie. Nach einer Weile hörte das Blut auf zu fließen, und Germaine umwickelte die Arme des jungen Mädchens mit Gazestreifen. Monsieur Mesurat überwachte diese Szene mit zugleich unzufriedener und neugieriger Miene und erbot sich mehrmals, Germaine bei ihrer Arbeit zu helfen, doch sie winkte ihm mit einer Autorität ab, die sie für gewöhnlich nicht besaß. Diese Frau, deren Leben nichts als die langsame Entwicklung einer einzigen Krankheit gewesen war, befand sich sozusagen in ihrem Element, wenn es um Verbände und Arzneimittel ging. In solchen Augenblicken legte sie eine seltsame Geschäftigkeit an den Tag. Sie war es, die Monsieur Mesurats Erkältungen und Adriennes Kopfschmerzen behandelte. Immer hatte sie alles Nötige im Schrank ihres Zimmers. Apathisch während der übrigen Zeit, schien sie aufzuwachen, sobald die Gesundheit ihres Vaters oder ihrer Schwester beeinträchtigt war. Mit sicherer Hand verabreichte sie Medikamente, verlor bei kleinen Unfällen niemals den Kopf, verstand es, mit Geschick und Geistesgegenwart zu pflegen und zu heilen. Es war gewiß nicht Herzensgüte, was sie so handeln ließ, sondern wahrscheinlich der Instinkt des Kranken, der die Krankheit in allen ihren Erscheinungsformen haßt und sie bei den anderen bekämpft, um sich gewissermaßen dafür zu rächen, daß er sie in sich selbst nicht bezwingen kann. Ihre ärztlichen Pflichten erfüllte sie mit eifersüchtiger Hingabe. Weder durfte man sie dabei behindern noch ihr helfen. Das stand ein für allemal fest. Und einen Arzt von auswärts rufen, daran war überhaupt nicht zu denken. Einen Doktor kommen lassen, wenn Germaine da war! Niemals hätte Monsieur Mesurat einen so absonderlichen Entschluß gefaßt. Adrienne übrigens auch nicht, und gerade die Tatsache, daß sie ein Eingreifen von Maurecourt für möglich gehalten hatte, zeigte ihr, wie weit ihre Verstörtheit sie schon geführt hatte.
»So sehr liebe ich ihn also!« dachte sie.
Es erschien ihr wie eine Offenbarung.
Am übernächsten Tag war sie fast geheilt. Sie trug keinen Verband mehr, und alle ihre Wunden hatten sich geschlossen. Doch von dem, was sie getan hatte, war ihr ein tiefer Eindruck geblieben. Sie erkannte sich in ihrer gewaltsamen Tat nicht wieder, und mit einer Art Ehrfurcht, unter die sich Angst mischte, dachte sie an das, was sie dazu veranlaßt haben mochte.
Der Mai ging seinem Ende entgegen. Eine beträchtliche Anzahl von Parisern war bereits über La Tour-l’Evèque hergefallen, und der Musikverein hatte seine Konzerte, die in einem Pavillon der öffentlichen Parkanlagen stattfanden, wiederaufgenommen. Auf den Straßen der Stadtmitte war das Leben etwas reger geworden, aber da, wo die Mesurais wohnten, herrschte mehr oder
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