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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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sie sich kurz davor glaubte, diesen Satz zu sagen, Germaine oder ihr Vater das Wort ergriffen, als hätten sie ihre Absicht erraten und wollten sie daran hindern, ihr Geständnis zu machen. Dieser Zufall verblüffte sie; sie führte ihn auf eine geheimnisvolle Ursache zurück und sah in ihm ein Zeichen, daß sie nicht von ihrer Liebe sprechen, sondern sie geheimhalten sollte.
    In der Einsamkeit ihres Zimmers, wenn Vater und Schwester schliefen, hatte sie sich angewöhnt, den Namen Maurecourt laut auszusprechen, wobei sie aber darauf achtete, beide Hände schützend vor den Mund zu halten, damit niemand sie hören konnte, und diesen Namen, den Germaine und Monsieur Mesurat ihr durch Gewalt nicht hatten entreißen können, wiederholte sie nun zehnmal, zwanzigmal mit einer grausamen Lust, die ihr Qualen bereitete. Und doch schien ihr, sie müßte ersticken, wenn sie ihn nicht sagte. Sie weinte nicht, aber in manchen Augenblicken, wenn Unruhe und falsche Hoffnungen von tiefer Niedergeschlagenheit und Schwermut abgelöst wurden, spürte sie, wie etwas in ihrer Brust anschwoll, wie ihr das Blut in den Kopf schoß und schmerzhaft in den Schläfen hämmerte.
    Sie nahm ihren Hut ab und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, als wolle sie sein Gewicht vermindern, indem sie es ein wenig anhob. Ihr war heiß in ihren Kleidern. Sie stand auf und stützte sich, die Knie gegen die Fensterbank gestemmt, mit den Ellbogen auf die Brüstung. In der Ferne fuhr ein Wagen über die Landstraße, aber dieses von weither kommende Geratter wurde schnell wieder leiser. In noch größerer Entfernung bellten Hunde. Begierig lauschte sie den Geräuschen. Die Stille in dieser Straße war einfach unerträglich. Man hätte meinen können, die Leute kämen schon allein deshalb nicht hierher, weil sie fürchteten, die grauenhafte Reglosigkeit zu stören, die auf diesem Teil der Stadt lastete.
    Schwermütig dachte sie daran, daß die Stunde näherrückte, zu der sie sich früher in Germaines Zimmer geschlichen hatte. Jetzt war die Tür zu diesem Zimmer versperrt. Doch wenn sie sich hinausbeugte, konnte sie das weiße Haus auch von den anderen Fenstern aus sehen, allerdings nicht so gut.
    Ein leichter Wind wehte; mit geschlossenen Augen atmete sie ihn lange ein. Plötzlich hörte sie Schritte die Straße heraufkommen, und sogleich wandte sie den Kopf in Richtung des weißen Hauses. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Dieser kleine Mann, der schnell an der Mauer entlangging, war Maurecourt. Eine Sekunde zweifelte sie daran und wich unwillkürlich zurück aus Angst, gesehen zu werden, obwohl sie dies zugleich mit aller Kraft wünschte. Er ging schnell, ohne den Blick zu heben. Gleich würde er verschwunden sein. Sie geriet völlig außer sich, grüßte mit einer flüchtigen Geste, die sie sogleich unterdrückte und preßte eine Hand auf den Mund, als wolle sie sich am Schreien hindern. Nun war er da, ging direkt am Haus vorüber, dann an der Villa Louise. Sie klammerte sich an die Brüstung und beugte sich zur Straße hinaus, wie um ihn zu rufen; sie hob sogar einen Arm, doch er konnte sie nicht mehr sehen und setzte seinen Weg fort. Sie sah ihn nur noch von hinten, nun konnte sie höchstens noch schreien. Dann würde er sich umdrehen. Sie vermochte es nicht. Es war wie in jenen Alpträumen, in denen man unfähig ist, sich zu rühren oder einen Laut hervorzubringen. Sie hatte das Gefühl, von einer Kraft erfüllt zu sein, die sie nicht einsetzen konnte. Sie hörte, wie seine Schritte sich entfernten, und auf einmal verließ er die Rue Thiers und bog in eine andere Straße ein. Ha! Jetzt konnte sie gestikulieren! Wie eine Verrückte drehte sie sich im Kreis. Ihn sehen, ihn zurückrufen, wie? Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Wenn sie nur krank sein könnte, dann würde er kommen; krank oder verletzt. Verletzt. Sie schloß einen Fensterflügel, schloß plötzlich auch die Augen und stieß ihre beiden nackten Arme durch die Scheibe.
    Das Klirren zersplitternden Glases überraschte sie. Sie sah ihre von roten Strichen bedeckten Arme; eine Sekunde später rann Blut an ihnen herunter, und obwohl sie keinen Schmerz verspürte, stöhnte sie laut auf, dann begann sie zu schreien. Es tat ihr gut, so zu schreien. Als sie jedoch ihr blutverschmiertes Kleid sah, wurde sie von Angst gepackt, und sie stürzte mit weit von sich gestreckten Armen zur Tür.
    Ihr Vater kam herein und hinter ihm Germaine, ganz außer Atem. Ihre Gesichter, die einen Wutausbruch befürchten

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